Kapitel 4: Die Erinnerungen an eine längst vergessene Zeit, Teil 1

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Nachdem ich Zuhause angekommen war und mein Fahrrad wieder zurück in den Schuppen hinter dem Haus gestellt hatte, wurde ich beim Öffnen der Haustür direkt freundlich und herzerwärmend empfangen. Nicht. Stattdessen knurrte Thyr mich an und stapfte missmutig davon, als ich mich partout weigerte ihn durch Streicheleinheiten noch weiter zu verwöhnen als er es sowieso schon ist. Mit einem Seufzen nehme ich meinen Rucksack, gehe die breite, weiß gestrichene und mit vielen mythologischen Figuren versehene Treppe in den 2. Stock hinauf, in dem sich unter anderem mein Zimmer befindet.

Seit Faiths Tod hat sich hier drinnen einiges verändert:

Es stehen nirgendwo mehr Bilder von uns beiden oder ihr herum, der große rote Plüschsessel in dem wir beide immer stundenlang zusammen gesessen hatten, während wir uns gegenseitig von unseren verborgensten Geheimnissen erzählt haben, wurde entsorgt und ihr CD- Ständer, in dem sie alle Alben ihrer Lieblingsstars gesammelt hat liegt nun wieder in ihrem Zimmer.

Beim Gedanken an sie bildet sich in meiner Kehle ein großer Kloß und meine Augen fangen an zu brennen. Ich denke wieder zurück an Faith, an die gesunde Faith. Die, die mich als älterer Zwilling immer beschützt hat und peinlich genau darauf geachtet hat, das alles genau an seinem ordnungsgemäßen Platz steht. An das Mädchen voller Leidenschaft, Liebe, Energie und Tatendrang.An das Mädchen, das es nicht verdient hat zu sterben. Eine Träne stiehlt sich aus meinem Augenwinkel und  gleitet still und leise über meine Wange, um anschließend zu Boden zu fallen.

Für mich ging damals, im letzten Winter, alles zu schnell. Von einem Tag auf den Anderen brach mein Leben zusammen und wurde in viele Scherben verstreut. Ich erinnere mich noch genau an den Tag:

„Komm schon, du Schnecke“, ruft Faith mir zu. Natürlich hat sie leicht reden, schließlich ist sie im Laufteam unserer Schule eine der Besten. Wir sind auf dem Weg nach Hause, denn Mum und Dad haben eine Überraschung für uns beide geplant, weil heute der 03. Dezember ist, oder auch Faiths und mein 17. Geburtstag. Im Gegensatz zu mir verhielt Faith sich wie ein Kleinkind im Zuckerrausch. Für sie war dieser Tag immer mit beinahe ansteckender Heiterkeit und Enthusiasmus erfüllt. Als ich ihr Gesicht sah, musste ich mich glatt zusammenreißen um nicht direkt drauf los zu lachen. Faiths Wangen waren durch die Kälte erdbeerrot verfärbt, ihre Augen glitzerten geradezu und auf ihren Lippen lag ein 1000 Watt lächeln, dass ihre strahlend weißen Zähne zum Vorschein brachte. Alles in allem sah sie aus wie 7 und nicht wie 17.

„Jaja, ich komme doch schon“, murmle ich,ziehe mir meinen lilanen Schal ein Stückchen höher ins Gesicht und jogge langsam auf sie zu. Gemeinsam kommen wir dann eine halbe Stunde später Zuhause an, nur eine kurze Schneeballschlacht unterbrach uns für einige Minuten auf unserem Heimweg.

„Wir sind wieder da! Mum, Dad, es ist Zeit für die Geschenke! Hope ist schon total aufgeregt und spricht den ganzen Tag von nichts Anderem mehr“, brüllt Faith durchs Haus.

„ Das stimmt überhaupt nicht!“ rufe ich bockig hinterher.

Aus dem hinteren Teil des Hauses ist ein helles, beruhigendes Lachen zu hören und kurz darauf erscheint meine Mum im Flur, gefolgt von einem mit Geschenken voll bepackten Dad. Auf ihren Gesichtern ist ein ähnlich entzückter Ausdruck wie auf Faiths zu sehen und wir alle Stimmen in Mums Gelächter ein.

Am Abend wollten wir noch ein schickes Restaurant besuchen, dass hier in der Nähe neu eröffnet haben soll.

Faith und sogar ich waren beide aufgeregt und wollten uns möglichst schick anziehen. Ich wählte ein samtgrünes Kleid, mit einem schwarzen Gürtel und einem dunkleren Unterrock, während Faith sich eine violette Seidenbluse und einen schwarzen Faltenrock überzog. Wir beide wollten unser langes Haar dem Anlass entsprechend kunstvoll hoch stecken. Um zu testen, wer es am besten kann, zogen Faith und ich uns in unsere Zimmer zurück und versuchten diese schier unmögliche Aufgabe zu lösen. Sowie ich fertig wahr rannte ich schnell in das Zimmer von Faith, das genau gegenüber von meinem liegt, da ich natürlich auch ihr Werk betrachten wollte.

Doch ich fand sie nicht. Ihre Schmicksachen lagen alle verstreut auf dem Boden, sodass es aussah, als hätte jemand sie in Panik oder einem Wutausbruch umgeworfen.

„Faith, bist du hier? Ist alles okay bei dir?“ Auf einmal höre ich ein Würgegeräusch aus dem Badezimmer. Dort sehe ich Faith über der Toilette hängen, alles voller Blut; ihrem Blut. Ich schreie auf. „Mum, Dad! Faith ist krank. Ruft einen Krankenwagen!“

An die nächsten Stunden kann ich mich kaum noch erinnern, der Schock saß mir anscheinend zu tief in den Knochen. So zerbrechlich hatte ich Faith noch nie erlebt und ich wusste, dass das Erbrechen von Blut nicht gesund ist, doch die Diagnose, die ein Arzt uns am Tag darauf mitteilte, hätte ich niemals erwartet. Gehirntumor. Keine Heilung.

Der einzige Gedanke, den ich in diesem Augenblick klar vor Augen hatte war:

                                      Faith wird sterben.

Die Retterin der Elfen (Buch 1)- Completed!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt