Der erste Schritt

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Das Krankenhaus in dem Kyle untergebracht war, war ironischerweise genau das, indem Jamie arbeitete, weshalb mein Bruder mich auch bereits erwartete. Als ich mich aus dem Wagen kämpfte, kam er mir entgegen und sah mich besorgt an. Irgendwas sagte mir, dass dies kein Zufall war, denn ich hatte Jamie nichts von meiner Ankunft erzählt.
"Es ist also tatsächlich wahr..." murmelte mein Bruder, als er mich an sich drückte - eine Geste die Jamie eher selten nutzte. "Bevor du loslegst, auch Tony hat bereits versucht mich davon abzuhalten und wie du siehst ist er nicht hier" erklärte ich und warf Happy einen kurzen Blick zu. "Melde dich, wenn du irgendwas brauchst Mona, ich vertrete mir die Beine" flüsterte er mir zu und drückte meinen Arm. "Danke" ich lächelte ihn an und wusste genau was er mir mit dieser Geste sagen wollte. Happy zwinkerte mir zu und machte sich dann schnurstracks auf den Weg zu dem kleinen Hotdog-Stand um die Ecke.
"Ich weiß..." entgegnete Jamie als er mich zum Eingang des Gebäudes begleitete. Tony hatte ihn also informiert - nur warum? Während ich mich die wenigen Stufen hinaufkämpfte, dachte ich darüber nach, dass auch Jamie unter Kyle gelitten hatte und dies mehr als nur ein Mal. Verhielt ich mich undankbar, wenn ich von all diesen Menschen verlangte meine Entscheidung zu akzeptieren?
"Ja, Tony hat mich angerufen... Er wollte nicht, dass du alleine bist und..." Jamie zuckte mit den Schultern und sah mich an "...ich bin froh, dass er mir bescheid gesagt hat". Ich nickte langsam und blieb stehen um einen Moment Luft zu holen - ich war tatsächlich noch recht schnell aus der Puste! "Ja?" ich musterte meinen Bruder einen Moment lang, bisher hatten wir lediglich miteinander telefoniert um sicherzugehen, dass es dem Anderen auch gut ging.
Jamies Augen wirkten müde, doch dies war in seinem Beruf nichts Neues. Sein braunes Haar war etwas länger als bei unserem letzten Zusammentreffen, doch es stand ihm hervorragend. Es wunderte mich keineswegs, warum er eine so starke Anziehungskraft auf das andere Geschlecht und dadurch einen ähnlichen Ruf besitzt wie Tony damals.
"Mona, wir haben dies von Anfang an zusammen durchgestanden und ich werde dich jetzt, bei diesem letzten und wichtigsten Schritt nicht alleine lassen" erklärte er und der Blick aus seinen strahlend grünen Augen wurde fest.
Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit überkam mich und wieder einmal wurde mir bewusst, wie viel Glück ich mit meiner Familie und auch meinen Freunden hatte. Wieder einmal stiegen mir die Tränen in die Augen und ich streckte mich ein wenig, um Jamie auf die Wange zu küssen. "Bitte fang jetzt nicht an zu heulen..." murmelte Jamie - ich wusste er konnte mit Gefühlsduselei nichts anfangen. "Jaja schon gut... Sag, wissen die Anderen von dieser Geschichte?" erkundigte ich mich vorsichtig und ließ meinen Blick über das Gelände streifen. Die Anderen waren in diesem Fall Brian, Kersey, Alex und Leanne, mit denen ich bisher nicht gespochen hatte, denn Brian und Kersey waren aktuell in Europa und Alex und Leanne auf einer Fortbildung in Texas. "Nicht, dass ich wüsste..." er zuckte mit den Schultern "...aber wie ich Mom kenne, hat sie sofort nachdem ihr weg wart einen Rundruf gestartet, rechne also mit regem Besuch sobald die Bande wieder Zuhause ist". Ich lächelte, Jamie hatte recht. Mom konnte nichts für sich behalten und diese Schocknachricht hatte sie mit Sicherheit sofort an meine Brüder weitergegeben - auch, damit sie zukünftig noch besser auf mich achteten.
Ich seufzte einen Moment und blickte dann zum Eingang "Ich schätze, ich sollte es nun hinter mich bringen..." murmelte ich und spürte wie sich in meinem Magen ein riesiger Klumpen bildete - mir wurde übel. "Lass dir so viel Zeit wie du willst, ich habe meine Kontakte spielen lassen und uns werden keine Besuchszeiten oder Ähnliches aufhalten" bekräftigte mich Jamie, sein Blick wurde ernst und ich merkte wie sehr er sich um mich sorgte. Ich nickte langsam und bewegte mich mithilfe meiner Krücke vorwärts "Bringen wir es hinter uns..." wiederholte ich erneut und trat den ersten Schritt in das Gebäude.
Der typische Krankenhausgeruch wehte mir in die Nase, noch bevor ich die Geräusche eines Klinikalltages wahrnahm. Wie jeder Mensch war ich Krankenhäusern gegenüber nicht sehr aufgeschlossen und eher froh, sie nur von Außen sehen zu müssen. Jamie nickte einigen Kollegen zu, die mich neugierig musterten und schob mich vorsichtig in Richtung der Fahrstühle. "Er liegt gesondert, auf der Station, auf der die Häftlinge normalerweise untergebracht sind" erklärte mein Bruder, als ich in den Fahrstuhl humpelte und er den entsprechenden Knopf drückte. "Es stehen zwei Polizisten vor der Tür, denn er wird im Anschluss an seine Behandlung hier, umgehend seine Zelle beziehen" Jamies Tonfall ähnelte dem Tony's wenn er von Kyle sprach - dunkel und gefährlich. Es schien als hätte mein Exfreund eine gewisse Wirkung auf die Männer in meinem Leben.
Ich nickte und verarbeitete die Informationen, während mein Adrenalinpegel nach oben schoss und meine Hände zu schwitzen begannen. Jamie warf einen Blick auf die Anzeige und dann auf mich "Wir haben alle Zeit der Welt, ok?" wiederholte er und sah mich besorgt an, als ich immer tiefer und schneller zu atmen begann. Ich spürte wie mein Herz zu raste, als ein leiser Ton uns ankündigte, nun im gewünschten Stockwerk angekommen zu sein. Die Fahrstuhltüren öffneten sich und Jamie legte mir schützend eine Hand auf den Rücken, während ich langsam heraustrat.
"Er ist nur wenige Meter weit weg... Er ist in deiner Nähe, Mona. Er ist hier..." schoss es mir immer wieder durch den Kopf und die Übelkeit schien mich fast zu übermannen. Vielleicht war ich doch noch nicht bereit dafür! Meine Hände begannen zu zittern und ich schwitzte inzwischen so sehr, dass mir der Krückstock aus der Hand rutschte und mit einem lauten "Klack" auf dem Boden landete. Hätte Jamie nicht schnell genug reagiert und mich gehalten, wäre ich ebenfalls dort gelandet.
"Nur, dass es bei dir nicht wirklich Klack gemacht hätte... Eher pflopp.." bemerkte die Stimme in meinem Kopf unpassend.
Jamie führte mich zu einem der Stühle und sammelte die Krücke vom Boden, ehe er vor mir in die Hocke ging und mich ernst ansah. "Beruhige dich einen Moment..." redete er auf mich ein und warf einer der Schwestern einen kurzen Blick zu. Benommen starrte ich auf meine zitternden Hände, die in Jamies gebräunten, großen Männerhänden lagen. "Atme langsam Mona..." seine Stimme sprach ruhig auf mich ein - die geübte Stimme eines Arztes. Zitternd folgte ich seinem Rat und blickte auf, als die Schwester Jamie ein Glas Wasser reichte, das er mir nun bestimmt vor die Nase hielt. "Ist das Schnaps?" scherzte ich zittrig und griff mit schwitzigen Händen danach. "Den Schnaps gibt es nach getaner Arbeit" ging Jamie darauf ein und entlockte mir ein leises Lachen.
Während er darauf achtete, dass ich seiner Anweisung folgte - ruhig weiter atmete und das Wasser brav austrank - erhob er sich und ließ seinen Blick über die Station wandern.
Nach einer Weile sah er mich an "Mona, wir werden erst in dieses Zimmer gehen, wenn du hunderprozent dazu bereit bist..." entschied er. Ich nickte langsam und leerte das Glas in einem Zug.
"... du wirst mir vor diesem Kerl nicht zusammenklappen, hörst du? Du hast jetzt die Gelegneheit dazu und danach, aber nicht vor seinen Augen! Versprich mir das!" forderte er und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. Einen Moment lang sah ich ihn an, ich wusste was er mir sagen wollte und er hatte recht. Wenn ich jetzt vor Kyle zusammenbrach, würde er für immer die Kontrolle über mich haben. Er würde nie aus meinem Kopf verschwinden und würde mich immer in meinen Träumen terrorisieren!
"Ja..." entgegnete ich leise und schloss die Augen um meinen inneren Mittelpunkt zu finden - ich würde vor Kyle nicht zusammenbrechen, koste es was es wolle!

Stressfull Mister StarkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt