Alle zum Chef

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Im Quartier war die Stimmung bedrückt. Alle wussten darüber Bescheid, dass Ilus momentan in hoher Gefahr schwebte. Auf einer Holzkiste saß Mitya. Ein seltener Anblick, ihn nicht trinken zu sehen. Doch stand schon eine Flasche bereit neben ihm. Statt zu trinken, schoss er mit einer Schleuder Kieselsteine auf eine leere Glasflasche. Wütend trat Zigz diese weg, sodass sie gegen der nächsten Wand zerschellte. Kurz darauf haute er um die Ecke ab. Shark setzte sich auf einen kleinen Hocker, während Henry sich vor Mitya stellte. Der Bruder sah ihn unbegeistert an: "Es war wirklich der letzte Gedanke von allen hier, dass Ilus sich einen Paten zulegen würde". "Unglück und Zufall haben sich dafür gemischt, er hat nicht nach mir gesucht", meinte er sehr kühl, "Ist dir eigentlich bewusst, durch was Ilus alles für dich durchgeht?". "Hat er dir noch nicht beigebracht, dass man in keinem Fall die Schuld auf mich schieben soll? Ilus erzählt allen, dass rein gar nichts mein Verschulden ist und ich mich bloß nicht für das schlecht fühlen soll, was andere ruiniert haben", murrte er.

Mitya stand auf und sank seinen Blick: "Denkst du wirklich, ich würde das alles mit Absicht machen? Ich wäre doch selber nicht gerne an diesem Punkt. Keiner hier wüsste, was wir ohne Ilus tun sollten. Er ist symbolisch der Vater der ganzen Gruppe hier. Jeden von uns hat er von der Straße adoptiert. Sogar sich selbst und seinen eigenen Bruder. Wir alle würden uns wünschen, es ihm gerecht machen zu können". Nach den Worten steckte er seine Hände in die Hosentaschen und ging die Treppe zu einem Schlafzimmer hoch. Hinter Henry fing Shark an zu sprechen: "Meine Eltern haben mich auf Straße gesetzt, weil ich Schule nicht konnte. Ilus hat mich gefunden und etwas Englisch beigebracht. Und, er hat mir Zuhause geschenkt". 

Nachdenklich ging Henry weiter und traf auf Koi, wie er ein paar Leute im Internet stalkte. Sofort fragte Henry ihn: "Wie kamst du eigentlich hierhin? Was hat Ilus für dich getan?". Koi schlug ganz schnell den Laptop zu und grinste nervös: "Also, ich bin noch gar nicht lange hier. Vielleicht drei Monate? Ich bin doch auch gerade mal 19, Ilus selbst ist auch nur 18 und hat erst vor fünf Monaten das Sagen hier bekommen. Vorher gab es hier wohl einen Boss, der meinte, Ilus unter Kontrolle halten zu dürfen, weil er Mitya im Griff hatte. Ich bin hier gelandet, weil ich in meinem College alle Netzwerke gehackt habe, raus geworfen wurde und meine Eltern so sauer waren, dass sie mich nicht mehr rein gelassen haben. Aus Spaß hatte ich Ilus' Motorrad gehackt, ohne ihn zu kennen. Oh Junge, das gab ja mal einen Stress. Lustiger Weise wollte er mich anfangs gar nicht hier aufnehmen. Dass ich letztendlich bleiben durfte, habe ich Lucky zu verdanken. Im Nachhinein fand Ilus mich anscheinend doch charismatisch, schließlich bin ich hier und stehe im Rang weit oben". "Wie würdest du dich fühlen, würde Ilus die Operation nicht überstehen?", hakte Henry weiter nach. Da brach Kois Lächeln: "Lass mich gar nicht erst an dieses Szenario denken...".

Für Luft ging Henry vor die Tür, wo Zigz mit einem Baseballschläger einen alten Wagen zertrümmerte. Wo er in den letzten Wochen kein einziges mal negativ gelaunt war, außer von Kiki abgewiesen zu werden, machte das Henry nun etwas Angst. Zumindest verhalf ihm diese Angst dann, als Zigz den Schläger ungezielt nach hinten warf und es Henry fast traf - Durch die Vorangst konnte er sich schnell genug ducken. Zigz bemerkte ihn, doch atmete er nur rasend schnell. Henry traute sich, auch ihn zu fragen: "Hat Ilus dir Tabletten gegen Aggressionen gegeben?". Knurrend trat Zigz die schon abgefallene Stoßstange: "Er war die Tablette selbst! Regelmäßig mit ihm auf Verfolgungsjagd zu fahren? Wer braucht schon mehr? Dazu hat er meinen Konsum von Zigaretten um ein Weites verringert und somit wahrscheinlich meine Lungen gerettet. Und jetzt ist seine eigene Lunge am sterben und zieht seinen ganzen Körper mit!".

Abschließend ließ er sich auf die stark eingedellte Motorhaube fallen und er sank auf seinen Rücken zurück. Leiser sprach er weiter: "Mich hat er mitten in der Nacht im Park aufgegriffen. Keine Ahnung, wie viele ich von den Dingern schon weg gehauen hatte. Irgendwann sah ich ihn nur hervor treten und er wies mich darauf hin, dass das schon die dritte Packung war, die ich hintereinander anbrach. Zu meiner Sucht kam hinzu, dass meine Mutter an dem Tag starb. Ich wollte noch nie heulen, also habe ich immer Sachen zerstört oder geraucht. In der Nacht nahm er mich dann zu einer Mission mit, wo ich sämtliche Energie los werden konnte. Er hasst mich für meine Sucht, doch irgendwas wird er in mir gesehen haben, sodass er mich hier behält". Henry setzte sich neben ihn: "Ihr alle habt eure Geschichte mit ihm, nicht wahr?". "Und jede ist anders. Lucky ist hier gelandet, weil er erst im Casino alles gewann und dann alles verlor. Fischkopf hatte einem Patienten versehentlich mal falsche Medikamente verabreicht und dadurch ist der Patient gestorben - Er hat den Job als Oberarzt natürlich verloren. Dem einen ist die Frau mit Kind abgehauen und der andere wurde von den Eltern abgestoßen. Jeder könnte dir hier so einiges erzählen", säuselte er gegen den bewölkten Himmel.

In Gedanken versunken schüttelte Henry mit dem Kopf und stand dann mit Energie auf. Er lief zurück in die Lagerhalle und rief: "Hey, Leute!". Doch nicht wirklich einer reagierte. "Hallo?", wiederholte er. Shark haute einmal feste gegen einen großen Metallkanister, sodass alle aufmerksam wurden. Henry nickte ihm zu, stellte sich auf einen Tisch und hob seine Stimme: "Wir alle sind unglaublich deprimiert wegen Ilus. Doch haben wir noch genug Chancen, er ist unglaublich stark. Eben weil er zu uns allen eine wichtige Verbindung hat, dürfen wir jetzt nicht den Glauben an ihn verlieren! Wir können ihm wohle etwas zurück geben! Er sucht diesen verdammten Ring und wenn wir uns alle anstrengen, dann können wir ihn finden! Stellt euch doch nur seinen glücklichen Ausdruck vor, wenn er zurück kommen würde und wir hätten den Ring gefunden". 

Als erstes richtete Koi sich auf: "So lange, wie er schon weg ist, könnte er in einer Auktion gelandet sein. Ich werde alle Auktionen für Schmuck in den letzten Wochen aufsuchen und die Wege verfolgen". Lucky stand auf und ging Richtung nach draußen: "Ich gehe sämtliche Bars absuchen, in denen Mitya gesoffen hat". Plötzlich stellten sich alle auf, liefen umher und riefen aus, was sie vor hatten. Shark ging auf Henry zu und fragte ihn: "Was wirst du tun?". "Ehrlich gesagt habe ich keinen Plan. Aber ich werde mir noch etwas ausdenken", sprach Henry zielstrebig.

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Wohl übernahm Henry die Leitrolle. Immer wieder wies er alle anderen an und gab neue Aufgaben durch. Zwischendurch kamen erneut Aufträge für falsche Pässe oder Ähnliches rein. Diese bearbeiteten sie auch noch zusätzlich zu ihren Ergebnissen über den Ring. Sogar Mitya lief viel herum und half, wo er konnte. Er hatte den Ring verloren, als er betrunken war. Doch versuchte er sich noch möglichst genau an den Abend zu erinnern. Sie kamen auf eine dunkle Spur, dass er eventuell nach Mexiko importiert wurde. 

Stunden vergingen und der späte Abend brach schon an. Eigentlich hätte Henry am nächsten Tag wieder zur Uni gemusst, doch war ihm nicht einmal die momentane Uhrzeit bewusst. Bis die Tür zur Lagerhalle aufgerissen wurde und Kikis Stimme laut nach einem Schuss ertönte: "Leute!". Die Arbeit stoppte und alle sahen zum Eingangsflur. Völlig außer Puste hielt sie sich ihre Hände auf die Knie und schnaufte: "Ilus ist aufgewacht... Er hat es überstanden...". Alle sprangen in Freude auf und jubelten. Da setzte Kiki nach: "Henry... Er will dich sehen...". Henry sprang von seinem hohen Posten runter und befahl: "Koi, du übernimmst ab hier!". "Das ist eine bescheuerte Idee, aber in Ordnung", rief der nun kurzweilige Chef ihm nach. Sie liefen zu Kikis Wagen und sie drückte direkt feste aufs Gas. Dabei flog Henry fast durch das Auto, da er noch nicht angeschnallt war: "Weshalb so eilig?". "Die Besucherzeit ist gleich vorbei", meinte sie, noch außer Atem.

Knappe acht Minuten blieben ihnen noch, als sie an seinem Zimmer ankamen. Mit geschlossenen Augen und einer Atemmaske lag Ilus im Einzelzimmer in seinem Bett. Flüsternd fragte Henry zu Kiki: "Schläft er?". Folgend öffneten sich Ilus Augen und er sah zu ihnen rüber. Kiki nickte ab: "Er wollte mit dir alleine reden. Ich warte draußen auf dich". Die Tür ging zu und Henry ging vorsichtig zu ihm rüber, doch lächelte er weit: "Du kannst gar nicht glauben, wie froh wir alle sind". "Habe ich euch in viel Ärger versetzt?", fragte er. Leicht lachte Henry: "Wir können wohl froh sein, dass niemand in eine Verfolgungsjagd geriet. Wir haben alles gerade so auf die Reihe bekommen. Ohne dich wären alle verloren. Shark war sehr traurig, Mitya hatte eine ganz böse Stimmlage, Zigz hat ein ganzes Auto zerstört-". "Die stellen sich doch nur an. Man kann auch ganz einfach ohne mich klar kommen, sie sind alle erwachsen. Wer auf der Straße länger als zwei Monate überlebt hat, wird auch sein restliches Leben lang ohne Hilfe zurecht kommen", unterbrach er ihn, "Doch was ist mit dir? Du lebst noch lange nicht auf der Straße und dir fehlt es noch ein kleines Bisschen an Reife".

"Worauf willst du hinaus?", war Henry verwirrt. "Könntest du ohne mich klar kommen?", stellte Ilus die Gegenfrage. "In deiner Welt sicherlich nicht", grinste Henry abwinkend. Ilus richtete sich auf, zog sich die Atemmaske ab und lehnte sich stark zu Henry rüber: "Die anderen waren traurig oder wütend. Doch keiner hat mich gebeten, mein Leben nicht aufzugeben. Nur du. Weil du mit Sicherheit noch nicht ohne mich könntest. Egal, welche Welt". Henry schielte mit stockendem Atem in seine sehr nahen stechend-silbernen Augen. Den Ausblick verlor er, als Ilus seine Augen schloss und ihn küsste.

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