Auf gleichem Boden stehen

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Die gesamte Woche blieb es still. Am Wochenende war wieder Henrys Nebenjob dran. Sofort kam ihm Kiki entgegen: "Lass niemals wieder zu, dass Ilus hier arbeitet. Er hat eine Schweinerei hinterlassen". "Ich denke nicht, dass es nochmal vorkommen wird", lächelte Henry versöhnlich. "Na dann, heute will die lokale Lacrossemannschaft vorbeikommen. Bist du bereit?", sie begleitete ihn in den Hinterraum. Er nickte: "Ja". "Sehr schön", mit diesen letzten Worten bereiteten sie alles vor. Kurz vor dem angekündigten Eintritt der Mannschaft, trat Mitya ein. Kiki scheuchte ihn sofort: "Ugh, du weißt doch, dass ich dir so Vieles hier erlaube, aber heute ist wirklich ein schlechter Tag für deine ewige Alkoholtrauer! Wir haben wichtige Gäste!". Unerwartet trat kurz darauf auch Ilus durch die Tür: "Ich babysitte ihn". "Ihr benehmt euch gefälligst! Los, Waffen her!", beide legten ihre Revolver und Pistolen auf den Tisch. Kiki rief Henry rüber: "Bring die bitte weg, wo sie keiner sieht". Doch Henry sah sich die Waffen nur starr an. Ilus stand auf und klopfte ihr auf die Schulter: "Ich mache das".

Soweit blieb es auch dabei. Die Brüder blieben dort und Ilus kontrollierte Mitya ununterbrochen. Derweil erledigte Henry seine Arbeit fleißig. Es wurde immer später und irgendwann waren nur noch die vier und der Koch wieder im Café. Henry putzte wenige Tische und Kiki unterhielt sich mit Mitya, welcher ausnahmsweise nicht bis oben hin voll war. Ilus war nicht da. Wo er sich befand wurde klar, als das Lied im Radio wechselte. Henry hörte wieder auf, sich zu bewegen. Ilus trat aus einem Nebenraum und beobachtete ihn mit verschränkten Armen. Während Henry sich die Schürze auszog, griff er schon zu seinem Mantel und versteckte sein Gesicht in seinem Wollschal. Er war aber nicht schnell genug, um seine Tränen verstecken zu können. Kiki sah es nicht, daher rief sie ihm nach, als er aus dem Café lief: "Henry, warte! Der Abwasch muss noch gemacht werden! Oh... Jetzt ist er weg... Ilus, könntest du-?". Da war auch der Weißhaarige schon aus dem Café, um Henry zu folgen. Aufgebracht warf Kiki ihren Lappen auf die Theke: "Das kann er doch nicht ernst meinen!". Mitya grinste etwas benommen: "Ich helfe dir gerne".

Auf dem Weg schniefte Henry nur, sprach nicht. Ilus war ihm dicht auf den Fersen. Sogar bis nach oben in die Wohnung folgte er ihm. Doch dort wollte Henry dann die Tür vor seiner Nase zu knallen: "Egal, was du versuchst, es ist nicht witzig! Lass mich in Ruhe!". Bevor die Tür zu ging, steckte Ilus seinen Fuß dazwischen und sprach mit ruhiger Stimme: "Es war sein Lieblingssong. Und einen Tag bevor er starb, da habt ihr das Lied noch gemeinsam gehört". "Schön, dass du alle Mittel hast, um alles über mich zu erfahren! Das ist doch wohl meine Privatsphäre!", regte Henry sich mit glasiger Stimme auf. Ilus folgte ihm in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich: "Zieh dir erst mal Mantel und Schuhe aus. Soll ich dir ein warmes Bad einlassen?". "Was bist du jetzt auf einmal so empathisch?! Der, der nie lacht und sich ständig so verhält, als hätte er einen Stock im Arsch!", schrie er weiter rum. Mit bewahrender Ruhe erklärte er kurz: "Empathie hat mir das Leben gerettet. Ich weiß nicht, ob ich froh darüber sein soll oder ob es nicht doch besser wäre, wenn ich nicht wäre. Aber zu sehen, wie andere eventuell dann um mich weinen würden, wie du es für deinen besten Freund tust, zeigt mir, dass ich halt lebe. Ob ich es gut oder schlecht finden soll? Heh, ich lebe, das ist ein Fakt".

Still wurde Henry erst mal die unbequeme Kleidung los. In der Zwischenzeit drehte Ilus die Heizung hoch und kochte ihm einen Tee auf. Er setzte sich zu ihm auf das kleine Sofa und erwähnte: "Und zu all dem kommt hinzu, dass er wohl nicht nur dein bester Freund war". Mit roten Wangen sah Henry aus dem Fenster in den zugezogenen Himmel: "Er war aber auch nicht mein fester Freund...". "Es war wirklich nicht viel, was euch fehlte - seine Worte", meinte er ruhig. Etwas erschrocken sah er ihn an: "Seine... Worte...?". Ilus reichte ihm den Brief: "Du kanntest seine Worte nur noch nicht". "Er hat ihn mir gegeben...", schwerer atmend sah Henry wieder weg, "Da stand er mit einer Pistole auf dem Geländer der großen Brücke, gerichtet gegen seinen Kopf... Er sah mir direkt in die Augen, als er abdrückte und folgend ins kalte Wasser fiel... Ich konnte ihn nicht abhalten...". "Niemand kann 7,5 Gramm in 400 Millisekunden bei einer Entfernung von null Zentimetern abhalten", schüttelte Ilus mit dem Kopf, "Und Depressionen sind ein unschlagbarer Gegner des Verstands".

Auf eine Stille fuhr Ilus fort: "Es ist gerade Mal einen Monat her, aber lass mich dir etwas erzählen. Du weinst bei jedem Mal, wo dieses Lied spielt. Weil es sein Lieblingslied war. Weil ihr nicht mal 24 Stunden vor seinem Tod dazu ein paar unsichere Küsse und einen langsamen Tanz ausgetauscht habt. Doch wirst du für den Rest deines Lebens bei dem Lied weinen wollen? Wirst du es immer sofort weg schalten, wenn es läuft? Wirst du dir bei jedem langsamen Tanz ein Bild von ihm in deinem Kopf ausmalen? Wirst du beim Küssen nur noch an ihn denken können? Wirst du, wenn du überhaupt nur einen Jungen siehst, an ihn denken müssen? Wirst du niemals fortlaufen und frei von den Gespenstern sein können?". "Doch nicht bei jedem Jungen, das wäre vollkommen unsinnig!", schüttelte er leicht entsetzt mit dem Kopf. "Und so kannst du dich immer ins Detail steigern. Es wird jetzt lange weh tun. Ich habe so etwas noch nicht erlebt, doch habe ich die Fähigkeit erlangt, andere verstehen zu können. Ich denke, wäre ich in deiner Lage, mit deinem Leben und allem, dann würde ich auf keinen Fall aufhören für die Beerdigung zu sparen. Doch würde ich danach auch versuchen los zu lassen", gab er ihm als Tipp.

Bevor Henry sprach, überreichte Ilus ihm einen dicken Geldbündel: "Aus 40.000 solltest du etwas Schönes für ihn machen können. Du hast hart gearbeitet, behalte das erarbeitete Geld für dich und mach dir ein gutes Leben". Nun war Henry sprachlos und er konnte das Geld nicht annehmen, da er einfror. Letztendlich lachte Ilus leicht: "Du sagst mir dann danke, wenn dein Systemerror beseitigt wurde, ja?". Fast ohne Ton fiepste er: "I- Ilus...". Wieder flossen ihm ein paar Tränen runter: "Ich denke wirklich nicht, dass ich jemals normal weiter machen kann...". Schnell war Ilus' Lächeln verschwunden und er sah ihn ernst an. Schließlich beugte Ilus sich vor und küsste ihn. Er wollte ihm deutlich zeigen, dass es sehr wohle ging. Vielleicht sogar schneller, als man es vermuten würde.

Erst quietschte Henry auf, doch blieb Ilus sanft mit ihm. Sein verwirrter Kopf lockerte auf und er ließ sich gehen.

~~~

Zigz warf ein Handy zu Ilus rüber: "Chefi, ist für dich". Er fing das Handy auf und fragte sofort: "Was gibts?". Direkt hielt er sich das Handy weit vom Ohr weg, als Kiki aufkreischte: "Wo ist Henry?! Weshalb ist er nicht zur Arbeit aufgetaucht?!". Sich am Ohr reibend vermutete er: "Er wird wohl Zuhause geblieben sein. Wahrscheinlich fühlt er sich heute nicht so wohl. Sollte er sich nicht selbst krank melden? Funktioniert das nicht so in der Arbeitswelt? Jedenfalls kann ich ihn nicht in Vertretung als krank melden". "Was hast du mit ihm getan?! Erst geht er ohne Worte und dann kommt er nicht zurück - ohne Worte!", fauchte sie ihn an. "Ihm wird es soweit gut gehen", tat er es ab, "Denke ich". Weiterhin regte sie sich auf: "Dein Ernst?! Du bist ihm gestern gefolgt, was ist passiert?!".

Versteckt biss er sich auf den Daumen, während er grinste. Weiterhin behielt er eine monotone Stimme: "Ich wollte mit ihm reden. Viel sagen wollte er aber nicht. Wusstest du schon, dass sein bester Freund verstorben ist? Er ist etwas niedergeschlagen". "So viel weiß ich auch, ja danke!", schnaufte sie. "Genau", mehr sagte er dazu nichts. Sie gab nach: "Bitte sag mir Bescheid, wenn du mehr weißt. Ich mache mir Sorgen um ihn". "Klar", schon legte er auf. Auf einmal ertönte Shark: "Warum erzählst du ihr nicht, dass du Kitty böse Aussicht gegeben hast?". Mit verzogenem Blick sah Ilus ihn an: "Geh zurück an die Arbeit".

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