Hass verwurzelt

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Zwei Wochen vergingen, in denen alle wie eine normale Familie zusammen lebten und sich nichts tat. Eigentlich hatte Henry mit der Gruppe vereinbart, dass sie sich nochmal melden würden. Doch das taten sie seit dem ersten Anruf nicht mehr. Bedrückt ging Henry die Treppen runter und sah im Wohnzimmer Mitya Fernsehen. Ihm fiel auf: "Du siehst gesünder als sonst aus". "Ich habe seit einem Monat keinen Alkohol mehr getrunken", gab er stolz von sich. "Wow...", staunte Henry, "So plötzlich?". "Seitdem Ilus seine eine Lunge verlor... wegen mir... Ich muss aufhören und anfangen, ihm zu helfen. Mit siebzehn fing die Sucht an, weil ich traumatisiert war. Ich wollte alles vergessen, was... nie geklappt hat und nie klappen wird... Aber ich kann anfangen, nach vorne zu sehen! Sobald wir diesen dämlichen Ring wieder haben, kann ich meinen Bruder endlich so unterstützen, wie ich es als der Ältere tun sollte! Wir können endlich eine richtige Familie sein, wir müssen nicht mehr im Dreck schlafen!", sprach er mit Enthusiasmus. 

Henry wurde zögerlicher: "Würdest du dir wünschen, nicht mehr nach Amerika zu müssen...?". Mitya wurde ebenfalls verklemmter: "Nichts gegen euch... Hier wurde ich aber geboren... Auf jeden Fall werde ich wieder hierhin ziehen, sobald ich dreißig bin... Eine eigene Familie gründen und endlich erwachsen werden... Liebend gerne hätte ich dann meinen kleinen Bruder bei mir, weißt du...? Nach all den Jahren, wo er alles für mich tat...". Nickend wurde Henry leiser: "Das ist verständlich...".

Energisch stürmte Ilus aus dem Arbeitszimmer: "Ich habe Neuigkeiten!". Er setzte ein Tablet auf dem Sofatisch ab und erklärte: "Auch wenn ihr es vielleicht nicht merkt, ich habe täglich nach den Hinweisen gesucht, die Iceman hier verteilt haben soll. Mir fiel auf, dass unser fünftes Matroschka-Set nicht mehr so stand, wie es hätte stehen sollen. Als ich sie geöffnet habe, fand sich ein weiteres Rätsel. Daraus konnten sich Koordinaten errechnen lassen". Mitya las vor: "Vancouver, Kanada...". "Ich habe es auch zur Sicherheit gegen gerechnet, mehrmals. Beim ersten Mal kam China raus und ich habe mich gefragt, was das mit uns zu tun hätte. Aber in Vancouver waren wir schon mal. Unser erster Anhaltspunkt auf einem anderen Kontinent. Und wir dachten für mehrere Wochen, wir seien in Amerika gewesen", erklärte Ilus stolz auf sich selbst.

Lächelnd addierte er zuversichtlich: "Also werden wir morgen schon nach Kanada fliegen. Heißt natürlich, dass wir in möglichst, ähm, jetzt los fahren sollten". Mitya war leicht zurück geschlagen: "Aber wir haben noch gar nicht Tschüss gesagt". "Wir waren hier lang genug, findest du nicht auch?", schüttelte Ilus grinsend mit dem Kopf, "War schön hier, ja, aber wir müssen auch irgendwann wieder arbeiten". Henry fühlte sich, als fiele ihm ein Stein vom Herzen. Hingegen war Mitya ruhiger. Schnell gab Ilus der Mutter Bescheid, welche traurig wirkte: "Passt bitte bloß auf euch auf". Er umarmte sie feste: "Wir geben unser Bestes! Danke, dass wir hier bleiben durften!". "Immer wieder seid ihr hier willkommen", sie zog auch Mitya zur Umarmung hinzu. So ziemlich direkt darauf ging es für sie schon ins Auto. Fröhlich winkte Ilus seiner Mutter und Milana zu, bevor er aufs Gaspedal drückte.

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Da der Verkehr besser war, waren sie dieses Mal schneller unterwegs. Doch Ilus bekam den Piloten erst für den Folgetag überzeugt. Also saßen sie irgendwann auf einem Parkplatz in St. Petersburg und waren ohne Unterkunft und Beschäftigung. Kiki fiel wieder ein: "Denkt ihr, unser Lieblingsklub steht noch?". Ilus wusste nicht, worum es ging: "Was für ein Klub?". Mitya erklärte: "Wir hatten am Stadtrand einen schönen Klub, wo auch Kinder rein durften. Dich haben wir trotzdem nie mitgenommen gehabt". "Wie unfair", schmollte Ilus. Kiki stieg schon aus: "Lass uns nachschauen gehen". Henry fragte sich innerlich, warum sie immer ausgerechnet nachts raus sollten. Mittlerweile tat er einfach so, dass Kälte und Frieren nur Einbildung waren, um durch zu kommen. 

Überrascht lachte Kiki, als sie vor einem Klub standen, was schon eher eine Bass-Kiste war: "Es ist tatsächlich noch hier. Vielleicht lassen sie uns wieder hier schlafen". Mitya seufzte einmal bedrückt. Ilus fragte ihn: "Was ist los?". "Ich will hier nicht weg... Das fühlt sich an wie eine Abschiedsparty...", gab er zu. Henry sah still zur Seite weg. Erst mal sah Ilus nur seinen Bruder: "Wir können doch immer wieder zurück kehren, sobald wir Iceman erledigt haben. Wenn es dich aufmuntert, dann feiern wir heute Nacht durch". Sein Körper füllte sich mit Freude: "Wirklich? Ich bin dabei!". So stürmten die beiden in den Klub. Kiki neigte ihren Kopf: "Ein bisschen tanzen mache ich mit, aber ich möchte auch irgendwann schlafen". Henry ging als letzter rein und sagte kein Wort mehr.

Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte, als er Ilus mit Mitya wild tanzen sah. Also lehnte er sich nachdenklich an einer Wand an und sah auf den Boden. So sah er es nicht kommen, als Ilus sich ihn griff und zum Tanzen zog. Die urplötzliche Energie überraschte ihn sehr. Von daher tanzte Henry nicht wirklich, flog einfach nur durch Ilus' Bewegungen mit. Das Lied hatte mittendrin eine kurze Pause des schnellen Beats. In dieser sah Ilus ihn lachend an: "Du bist so bleich. Ich weiß, du hast mich kennengelernt, da habe ich nie gelacht. Hättest du mich etwas früher gekannt, dann hättest du diese Seite von mir gesehen. Komm schon, sei auch etwas verrückt drauf! Etwas Bewegung würde deinem frierenden Körper doch auch mal gut tun!". Da nahm die Musik wieder an Fahrt auf und er machte so weiter wie vorher auch. Henry war vollkommen fasziniert. Für kurze Zeit war er lahm gelegt, doch dann wurde er sauer.

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Shark saß an einer brennenden Tonne. Neben ihm lag Henrys Katze. Er hatte sie sich geholt, als Dexter in Henrys Wohnung am schlafen war. Koi druckte gerade einen Reisepass mit angeblich legalem Visum aus und verabschiedete sich von einem Kunden. Ihm fiel auf: "Uns geht die Druckerfarbe langsam aus". Zigz zog die Schultern hoch: "Dann bestell Neue". "Ihr kommt immer nur dann ins Spiel, wenn es um Gewalt geht. Das ist keine faire Arbeitsverteilung", merkte er an, "Zum Beispiel könntet ihr hier putzen". Aus einer Ecke fragte Lucky: "Wofür? Damit Chef sich über Videotelefonie freuen kann? Er kommt sowieso nicht mehr wieder". "Du auch noch?", jammerte Koi, "Was seid ihr alles für Pessimisten? Ilus wird wieder kommen, mit Mitya und Henry. Dann reißen wir unsere Ärsche für diesen Ring auf und machen das Business hier richtig. Mit neuer Druckerfarbe! Nicht wahr, Shark? Notfalls zerrt Henry ihn wieder zurück, du glaubst doch wenigstens an ihn".

Gerade wollte der Riese dazu etwas sagen, da stand Henrys Katze auf und ging zielstrebig auf die Haustür zu. Er wollte ihr folgen, da war Koi aber schon an der Tür: "Ich gehe. Was ist los mit dir, Fellnase? Fressen gerochen?". Hinter ihm ging die Tür zur Lagerhalle zu. Rasch drehte Koi sich um: "Wer ist da?!". Nichts rührte sich. Die Katze sah sich um und ging nicht mehr weiter. Zwar skeptisch, doch es abwinkend wollte Koi wieder zurück. Da wurde ihm auf einmal ein Tuch vor das Gesicht gehalten und er verlor sein Bewusstsein.

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Nach Stunden an Party saß die Kleingruppe im Privatjet auf ihrem Weg nach Kanada. Außer Henry schliefen alle. Henry selbst liefen leise Tränen runter, während er aus dem Fenster sah. Er unterschätzte Ilus' zerstörten Schlafrhythmus. Also erschreckte er sich leicht, als er sich vor ihn an den Tisch setzte: "Hey, was ist los?". "Gleiche Frage an dich, wieso schläfst du nicht?", wischte Henry sich die Tränen weg. "Du bist in meinem Kopf stecken geblieben. Es hat mir wirklich Sorgen gemacht, dass du so hasserfüllt im Klub standest. Und jetzt weinst du. Habe ich etwas Falsches gesagt?", erzählte er besorgt. "Nicht wirklich, nur... Du bist so aufgeblüht... Du trägst immer schwarze und graue Kleidung, sogar deine Augenfarbe ist grau-silber... Aber zwischen den ganzen Lichtern, inmitten des Schneefalls, da lachst du so viel, hast positive Energie und bist wohl ganz du selbst... Sobald das Thema Iceman auftaucht, bist du dann wieder so rachsüchtig und schlecht gelaunt... Er hat nicht nur Mitya geschadet...", schniefte Henry.

Beruhigend wollte Ilus seine Hand nehmen, da schlug Henry wütend auf den Tisch und knurrte: "Ich will ihn tot sehen! Dafür, dass er euch alles genommen hat! Ihr hattet doch vorher bestimmt eine wunderbare Familie mit wunderschönem Standort! Ich habe sogar Bilder von einem süßen Hund gesehen! Und von euch, wie ihr einfach am lachen wart! Das war euer schönes Zuhause und es wurde euch von diesem Arschloch genommen! Am liebsten würde ich ihn dafür höchstpersönlich erwürgen, erschlagen, niederstechen-!". Ilus sprach dazwischen: "Sh, sh, sh. Immer mit der Ruhe. Dieser rasende Herzschlag kann für dich nicht gesund sein". "Für dich doch auch nicht!", widersprach Henry. -"Es ist nur noch diese Mission... Eventuell schaffen wir es sogar, ihn zu töten... Man kann nun mal nicht nur Freunde im Leben haben, man hat auch ganz oft Feinde. Sie gehören hinzu. Überall auf der Welt ist das so. Solange ich aber euch habe, brauch ich mich nicht wirklich aufzuregen. Manchmal überreagiere ich. Ich... Bitte mach du dir nicht deine Hände dreckig... Vor allem nicht wegen ihm...".

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