Umschwung

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Da Henry nichts sagen durfte, sah er sich die ungewöhnliche Dekoration im Haus an. Kiki lief ihm nach und erklärte ein paar Dinge: "Das sind Matroschkas". Henry neigte interessiert den Kopf: "Die habe ich glaube ich schon mal gesehen. Und was ist das?". "Tscheburaschka", lächelte sie. Großäugig blinzelte Henry verwirrt. Während sie die Regale erkundeten, saßen Mitya, Ilus und die Mutter am Esstisch. Die Mutter hatte sich erst zu beruhigen, dann konnte sie fragen: "Wer ist eigentlich der braunhaarige Junge?". Ilus blieb direkt: "Ich leite eine Straßengang und er ist einer der Mitglieder. Sein Name ist Henry". Sie holte erschrocken Luft: "Mit Waffen und so? Geht es dir gut?". "Sei nicht zu schockiert. Wir sind nun mal schutzlos auf die Straße gelaufen. Meine eine Lunge besitze ich nicht mehr", erklärte er. "Es tut mir so weh, dass ihr wegen uns abgehauen seid. Nach Amerika sogar, um Gottes Willen. Nachdem euer Vater dann tot war und ich alleine hier war, hat sich unendlich viel in meinen Leben und in meinen Sichtweisen geändert", schüttelte sie reuend mit dem Kopf.

Wie gerufen kam eine andere Frau ungefähr in ihrem Alter die Treppen runter und fragte: "Was ist denn hier los, Honigbiene? Wer sind diese ganzen Gäste?". Allen außer Henry klappte der Mund auf. Die Mutter wurde kurz rot und lachte dann: "Entschuldige für die Blicke. Das sind meine Söhne und das ist die Tochter meiner Schwester. Ich hatte dir ja ein Bisschen erzählt gehabt. Ilus, Mitya, Kiki, das ist Milana. Sie hat mir sehr mit meinen Lebensansichten geholfen". Ilus blieb die Luft weg, als sie gegenseitig ihre Hände nahmen. Das verstand Henry nun wieder und er fing an, sich seltsam zu fühlen. Die beiden Frauen setzten sich zusammen an den Tisch und die Mutter kam wieder schnell zurück auf vorherige Themen: "Mitya... Gerade bei dir habe ich mich zu entschuldigen... Wir standen nie richtig auf deiner Seite und es ist völlig verständlich, dass du dein Vertrauen und deine Liebe zu mir verloren hast... Dir wurden schlimme Dinge angetan, die ich mir bloß nicht vorstellen möchte, und wir haben dir die Schuld zugeschoben... Einem kleinen unschuldigen Engel...".

Bedrückt kratzte Ilus' Stimme: "Die Schäden sind geblieben... Alkoholprobleme...". Mitya sprach auf: "Aber Ilus hat mich beschützt, die ganzen Jahre, so gut wie er nur konnte. Er hatte sehr oft sein Leben nur für mich und meine Probleme riskiert. Mir ist, seitdem ich zweiundzwanzig wurde, nichts mehr zugestoßen". "Aber bis zweiundzwanzig waren das noch genug Jahre Leid. Ich wünschte mir, wir hätten euch nicht so verschreckt", bedauerte sie dennoch. Beide Söhne sahen kurz still auf die Tischplatte, bis Ilus lächelte: "Aber jetzt sind wir doch wieder hier". Henry flüsterte zu Kiki: "Worüber reden sie?". Kiki neigte ihren Kopf leicht: "Eventuell war es genau richtig, wieder zurück zu kehren...".

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Sie standen an den Zäunen für die Tiere. Kühe und Pferde hielten sie in einem Feld. So streichelte Mitya eine Kuh und Ilus kicherte, als ein Pferd auf ihn zukam. Mitya fragte ihn: "Was weißt du noch über das Reiten?". "Lass es uns doch ausprobieren", meinte er zuversichtlich, sprang über den Zaun und setzte sich direkt auf das Pferd. "Ohne Schutzausrüstung?", war Mitya besorgt. "Gib mir einfach eine Leine", wies der kleine Bruder an. Dem Befehl folgte Mitya und er öffnete auch gleich das Tor. Schon war Ilus mit dem Tier auf Freilauf. Henry beobachtete alles von drinnen, da ihm draußen zu kalt war. Schon bei dem Anblick, wie die Brüder in gerade Mal Pullovern da standen, ließ ihn frieren. Doch schnell bekam er große Augen, als Ilus auf dem Pferd durch den Schnee rutschte. Ungläubig nuschelte Mitya: "Der kann wirklich über jedes Lebewesen Kontrolle halten...".

Derweil hatte Ilus seit Langem nicht mehr so viel Spaß. Bis er zurück kam und er durch einen unerwarteten Schneeball vom hohen Ross flog. Mitya hielt das Tor schon auf, sodass das Pferd von alleine wieder rein lief. Er schloss es wieder und fing dann einen Schneeball-Krieg mit seinem Bruder an. Dieser rächte sich sofort und gemeinsam tollten sie im weißen kalten Puder herum. Am Fenster entspannte Henry sich und lächelte schüchtern. Hingegen lächelte die Mutter stolz: "Sie sind wirklich groß geworden... Seit zehn Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen, kein Wort von ihnen gehört... Und jetzt sehe ich sie und sie spielen miteinander, als seien sie immer noch kleine Jungs...". Mit großem Fragezeichen sah Henry die Russisch sprechende Frau an. Kiki übersetzte es schnell für ihn und gesellte sich zu ihnen hinzu. Irgendwann standen alle da und beobachteten die beiden bei ihrem kleinen Machtkampf.

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Nach dem ganzen Toben war Ilus so müde, dass er tief und feste schlief. Mitya blieb noch etwas wach und unterhielt sich mit seiner Mutter und ihrer Freundin. Kiki kümmerte sich etwas um Jurij und Henry saß in einem separaten Gästezimmer, um die Gang in Amerika zu kontaktieren. Es dauerte etwas, aber der Anruf wurde abgenommen. Sofort fuhr Zigz ihn hysterisch an: "Na endlich! Ihr seid schon seit mehr als einem Tag weg und meldet euch jetzt erst! Was ist passiert?!". "Wir waren nur die ganze Zeit am Fahren, alles ist gut. Naja... Hier passieren schon viele verrückte Dinge, aber wir sind unversehrt", erklärte Henry beruhigend. "Na immerhin", seufzte Zigz erleichtert. "Bist du in Schlafklamotten?", fragte Henry verwundert. "Hier ist es sieben Uhr morgens, wir gehen jetzt schlafen. Diese Nacht war ein echt langer Dienst", beschwerte Zigz sich, "Obwohl, Koi ist noch wach. Er hat einen normalen Schlafrhythmus... mehr oder weniger". 

Durch die Videofunktion bemerkte Henry: "Ja, ich sehe Shark da auf der Holzkiste schlafen. Wieso ist er nicht im Bett?". "Ilus war in erster Linie immer der, der anderen aufs Maul haute. Jetzt ist Shark es und lange war er nicht mehr so aktiv. Er ist wohl irgendwann zur Seite gefallen. Verwunderlich, dass die Kiste noch ganz ist", zog er die Schultern hoch. Nachdenklich wähnte Henry an: "Gleiches gilt für Ilus... Er hatte wohl lange nicht mehr so viel Spaß...". "Nicht mal an Weihnachten?", steckte Zigz seine Nase aufgeregt in die Kamera. "Nein...?", Henry entfernte sich etwas vom Bildschirm, "So schwer es mir fällt, das sagen zu müssen... Ich denke, Ilus ist Zuhause...". "Ja, das wissen wir? Wo wollt ihr denn sonst sein?", war Zigz verwundert. "Nein, du- Das meinte ich nicht... Also... Sollte Ilus die Idee bekommen, hier zu bleiben... Ach, wie soll ich das sagen?", war Henry zwiegespalten. Zigz Blick sank ein: "Du meinst, er will gar nicht mehr zurück...?". "Vielleicht", hob Henry die Schultern, "Er lacht so viel, wirkt leichtfüßig und ist unbesorgt. Gerade schläft er tief und feste, total friedlich".

Da wurde es still. Henry zog leicht zusammen: "Ich wollte keine falsche Vermutung aufstellen, tut mir leid...". Zigz sprach monoton: "Wenn er meint, dass es dort für ihn besser ist, dann dürfen wir ihn nicht aufhalten. Er hat uns allen das Leben gerettet. Und wenn es ihm sein Leben rettet... Wenn er sonst unglücklich ist...". "Das habe ich nicht gesagt, nur... Ich weiß auch nicht, irgendwie fühle ich mich komisch... Weiß nicht, weshalb ich das so sage", schüttelte er mit dem Kopf. Koi sprang wortwörtlich hinzu und gab seine Meinung ab: "Ohne wie ein Boss klingen zu wollen, ich lasse Ilus nicht gehen. Schön, wenn er uns von der Straße geholt hat. Nur ohne ihn würde es für uns genau dorthin zurück gehen. Ich glaube daran, dass er uns auch nicht los lassen könnte. Schon alleine wegen dir nicht, Teddy".

Zigz wand ein: "Er hat ja gut Reden, er könnte ganz glatt mit ihm einziehen und gemeinsam ein Leben führen. Doch wir sind alle an dieses Land gebunden, wir können nicht einfach weg. So schön wir unsere eigenen neuen Identitäten drucken können, ich habe hier Kinder, du hast hier deinen Bruder, Shark hat hier schon mit Englisch Probleme und so weiter. Außerdem können nicht vierzig Leute mit ihm zusammen einziehen, wie Teddy es könnte". Henry stoppte rot werdend: "Sekunde Mal, wer hat denn davon etwas gesagt?!". "Könnte!", wiederholte Zigz lauter.

Total verschlafen trat Ilus hinzu und murmelte: "Warum ist es hier so laut...?". Erschrocken fragte Henry: "Habe ich deine Tür nicht richtig geschlossen? Tut mir leid. Ich informiere die Gruppe gerade nur über unseren Status". Leicht schmunzelte Ilus: "Kannst ihnen sagen, dass alles hier perfekt ist und es Mitya und mir bestens geht". Daraufhin blieb es still. Henry räusperte sich und nickte: "Mach ich, leg dich wieder schlafen". Als er zurück ging, sahen sich die drei über das Telefon zweifelnd an.

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