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Ich folge Maxim in die erste Etage, doch wir laufen noch eine weitere schmale Treppe nach oben in das Obergeschoss des Hauses. Es ist kein Dachboden mit freiliegenden alten Holzbalken, Staub und Spinnenweben, wie in einem Horrorfilm, sondern es ist einfach eine weitere Etage, die zwar komplett ausgebaut ist, von Maxim jedoch nicht als Wohnraum genutzt wird.

Das Dachgeschoss ist in drei Räume aufgeteilt, die von einem kleinen Flur abgehen. Maxim geht in den Raum direkt vor Kopf. Er schiebt eine große Abdeckplane beiseite und darunter kommt der große schwarze Flügel zum Vorschein, den ich gerade auf seinem Kindheitsfoto gesehen habe.

"Ich habe den Flügel geerbt", verkündet Maxim und mir entgeht nicht die gehörige Portion Stolz, die in seiner Stimme mitschwingt. "Mein Opa hat mir das Klavier spielen schon als Kind beigebracht. Ich habe den Flügel eigentlich ins Wohnzimmer gestellt, aber es hat mir jedes Mal weh getan, wenn ich ihn dort gesehen habe, deshalb kam er dann nach einigen Wochen hier oben hin."

"Spielst du was für mich?", frage ich vorsichtig und trete neben ihn.

Der schwarze glänzende Lack ist trotz der Abdeckplane von einer feinen Staubschicht überzogen, die Maxim frustriert mit seiner Hand wegwischt. "Seit mein Opa gestorben ist, habe ich nicht mehr gespielt", erklärt er traurig. "Ich habe es einfach nicht über's Herz gebracht, obwohl ich immer gerne gespielt habe."

"Musst du ja auch nicht", lenke ich ein und streichele ihm verständnisvoll über die Schulter.

Maxim setzt sich dennoch an den kleinen Hocker und starrt eine Weile lang nur auf die schwarzen und weißen Tasten, bis er irgendwann vorsichtig eine von ihnen mit seinem rechten Zeigefinger herunterdrückt, sodass ein tiefer Ton den sonst leeren Raum erfüllt.

Er atmet tief durch und spielt dann die Melodie von "Alle meine Entchen".

Grinsend dreht er sich zu mir herum. "Das war das erste Lied, das Opa mir beigebracht hat. Aber jetzt muss ich auch was richtiges für dich spielen. Nicht, dass du denkst, alles was ich kann sei dieses Kinderlied." Sein Ehrgeiz scheint geweckt.

Ich erwidere sein Lächeln liebevoll.

"Monatelang haben wir den Flohwalzer geübt, das ist das Lied, was ich am allermeisten mit ihm verbinde. Aber ich will was anderes für dich spielen", informiert er mich nach einer kurzen Denkpause.

Erwartungsvoll starre ich auf seine Hände, bis sie beginnen wie ferngesteuert über die Klaviatur zu fliegen.

Bereits in den ersten drei Sekunden erkenne ich die Melodie. Er spielt "River flows in you" von Yiruma. Eben jenes Lied, auf das ich letztes Jahr meine Weltmeisterkür gelaufen bin.

Jetzt weiß ich auch, wieso er letzte Tage so melancholisch wurde, als das Lied erklang. Er hat ebenfalls eine ganz persönliche Verbindung zu diesem schönen Liedh.

Maxim ist völlig konzentriert und spielt die Melodie fast fehlerfrei und dabei so schön, dass mir Tränen in die Augen steigen. Dass er sein Trauma überwindet um mich zu spielen bedeutet mir wirklich viel.

Als ich ungefähr neun oder zehn Jahre alt war, hatte mein Vater einen Autounfall, als er mich vom Eislauftraining abholen wollte. Ich habe mich damals fürchterlich über ihn geärgert, weil er mich so lange in der Kälte stehen ließ und dachte schon, er hätte mich wegen seiner Arbeit versetzt oder gar vergessen, bis irgendwann mein ältester Bruder Momo angehetzt kam und mich darüber aufgeklärt hat, was wirklich passiert ist.

Es war kein schlimmer Autounfall und meinem Vater ging es nach einigen Tagen im Krankenhaus auch wieder gut, aber ich hatte damals so ein schlechtes Gewissen und auch einen solchen Hass auf mich selbst, dass ich ein gutes halbes Jahr nicht mehr aufs Eis gegangen bin.

Als ich mich dann irgendwann doch wieder dazu überreden ließ, war der erste Gang aufs Eis nach der Pause der schwerste meines Lebens. Schwerer, als bei der Weltmeisterschaft zu laufen. Deshalb weiß ich nur zu gut, wie sehr Maxim sich gerade überwinden musste um wieder zu spielen.

Als ich dachte, dass ich mir Maxim nicht am Klavier vorstellen kann, habe ich mich getäuscht. Er macht das so routiniert trotz der langen Pause, dass es aussieht, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Es scheint, als sei das seine besondere Begabung.

Die letzten Töne erklingen und ich wische mir hastig eine Träne von der Wange. "Wow", entfährt es mir ehrfürchtig. Maxim hebt den Kopf und auch seine Augen glänzen verräterisch. Ich lege meine Arme um ihn und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. "Danke, dass du das für mich getan hast. Das war wirklich wunderschön. Es ist verschwendetes Talent, wenn du das Spielen aufgibst."

Maxim lehnt seinen Kopf an mich und schließt kurz die Augen.

"Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Leben nochmal spielen würde", flüstert er leise.

"Gut, dass du es doch getan hast", antworte ich und streiche durch sein blondes Haar.

Er legt seine Hände auf meine Hüften und zieht mich bestimmt auf seinen Schoß.

Zärtlich streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schenkt mir einen so tiefen Blick, dass mir ein warmer Schauer über den Rücken läuft.

"Danke, dass du mich dazu gebracht hast", sagt er ehrlich und legt seine Lippen sanft auf meine.

Ich erwidere seinen liebevollen Kuss nur zu gerne und lege meine rechte Hand sanft auf seine stoppelige Wange. Maxim öffnet langsam seine Lippen und dringt mit seiner Zunge in meinen Mund ein, so vorsichtig, als wolle er um Erlaubnis bitten. Ich liebkose seine Zunge mit der meinen und schließe die Augen.

Max zieht mich näher an sich, streichelt über meinen Rücken und fährt mit der Hand unter mein Shirt, sodass sich an meinem ganzen Körper eine angenehme Gänsehaut bildet.

Wieder und wieder küsst er mich, macht höchstens eine kurze Pause um nach Luft zu schnappen und kann dann doch wieder nicht von mir ablassen.

Der Kuss wird immer intensiver und mein Magen kribbelt verräterisch. Meinen Unterleib durchfährt ein warmes Ziehen und ich bin kurz davor, die Kontrolle zu verlieren, sodass ich mich qualvoll von ihm löse und aufstehe.

Ich kann sonst nicht garantieren, dass ich gleich noch weiß, was ich tue.

Ich habe mich plötzlich so extrem von ihm angezogen gefühlt, dass ich bereit gewesen wäre, auch noch einen Schritt weiter zu gehen - dabei will ich das gar nicht. Zu groß ist mein schlechtes Gewissen. Immer wieder hallen Walids und auch Abbas' abfällige Worte durch meinen Kopf, die zahlreichen Unterstellungen, ich würde mich schon seit geraumer Zeit von Maxim "ficken lassen" und so bin ich einfach viel zu gehemmt, als könnte ich diesen Schritt in letzter Konsequenz gehen, ganz egal wie sehr ich es in diesem Moment vielleicht will.

Hinzu kommt, dass ich wirklich versuche zu vermeiden, Maxim falsche Signale zu senden oder die Sache zwischen uns noch verbindlicher zu machen, als sie es eh schon ist. Und wenn es nur der Schein ist, den ich mir aufrecht erhalte, um mich zum einen nicht wie eine Schlampe zu fühlen, die wenige Tage nach ihrer gelösten Verlobung schon mit dem nächsten Mann schläft, und zum anderen auch um der Angst aus dem Weg zu gehen, erneut so sehr verletzt zu werden, wenn ich mich wieder auf einen Mann einlasse.

Meine Wangen brennen und mein ganzer Körper ist erhitzt. "Ich.. Wir..", stottere ich völlig durch den Wind. "Schon okay", antwortet Maxim verstehend und steht ebenfalls auf. "Lass uns wieder runter gehen."

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Meine Lieben,

Wie findet ihr es, dass Lilli diesen intensiven Kuss fast schon panisch abbricht? Wie findet ihr ihre Gründe?

Und was sagt ihr zu Maxims Reaktion?

A.

In meinem Herzen nur wir Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt