Kapitel 1
Pulkovo, Russland
Samstag, 05. Jänner 2019
Daria Rosner atmet tief durch, als das Flugzeug sicher auf der Landebahn aufsetzt. Endlich hat sie wieder festen Boden unter ihren Füßen. Das Fliegen in diesen Monstern, wie sie Flugzeuge schon seit ihrer Kindheit nennt, hat sie noch nie sonderlich gemocht. Für ihre Abneigung gibt es keine rationale Erklärung. Sie hat weder Höhenangst, noch einen Verwandten bei einem Flugzeugabsturz verloren. Auch die gelegentlichen Berichte über Flugzeugabschüsse oder der rabiate Umgang mit Passagiergepäck haben sie nie abgeschreckt. Sie bevorzugt lediglich Züge, Busse oder Autos, um von A nach B zu reisen, denn das Fliegen ist ihr nicht geheuer. Umso glücklicher ist sie, als sie sich endlich abschnallen, unter ihrem Sitz nach ihrer Handtasche fischen und mit einigen hunderten Passagieren das metallische Monster verlassen kann.
Man müsste meinen, dass es im Jänner niemand so recht eilig hat, nach Russland zu kommen. Was möchte man denn schon im tiefsten Winter in St. Petersburg unternehmen? Die sibirische Kälte und eisigen Nordwinde, welche selbst die Einheimischen zum Frösteln bringen, laden nicht wirklich ein, durch die historische Innenstadt zu flanieren, um dann abends mit einer roten Nase und eiskalten Zehen, die man womöglich nicht mehr spürt, ins Hotelzimmer oder Apartment zurückzukehren. Einen angenehmen Reisetag als interessierte Touristin stellt sich Daria jedenfalls anders vor.
Dennoch wird sie von einer großen Menschenmenge schonungslos durch die langen Gänge am Flughafen gescheucht. Einige Passagiere hetzen schnellen Schrittes und mit ihren Mobiltelefonen in den Händen an ihr vorbei. Andere tänzeln glücklich vor ihr hin und her und diskutieren eifrig, welchen Bus sie nehmen sollen, um in die Innenstadt zu kommen. Wiederum andere trotten ihr missmutig nach und beschweren sich brummend über das Gedränge am Gang.
Obwohl Daria des Öfteren versucht, dem Strom zu entkommen, gelingt ihr dies erst, als sich die Menschenmasse in der großen Gepäckhalle verläuft. Hunderte Passagiere strömen an ihr vorbei und platzieren sich breitbeinig vor den Förderbändern. Sichtlich ungeduldig warten sie auf ihre Koffer und Taschen.
Um den Zugang zur Halle nicht zu blockieren, wankt Daria auf unsicheren Beinen zu einer in die Jahre gekommenen Sitzgruppe zwischen zwei Förderbandinseln. Sie setzt sich auf einen Stuhl am äußersten Rand und legt den Kopf in ihre Hände. Ihre Ellbogen stützt sie auf den Knien ab. Sie schließt ihre Augen und atmet einige Male tief durch.
Das beklommene Gefühl in ihrem Inneren möchte einfach nicht verschwinden. Es führt ihr durch den Kloß in ihrem Hals sowie das Kribbeln in ihrem Bauch deutlich vor Augen, dass sie nicht hier sein möchte. Sie wollte nie wieder nach Russland und schon gar nicht nach St. Petersburg kommen, sondern alle Erinnerungen an dieses Land und ihre einstige Trainingszeit als Eiskunstläuferin aus ihrem Gedächtnis löschen.
Erfolglos.
Alles in dieser Halle erinnert sie an bessere, glücklichere Zeiten. Sie wecken eine unstillbare Sehnsucht in ihr und rauben ihr die Luft zum Atmen.
Daria öffnet ihre Augen und hebt den Kopf. Sie schaut auf die ungeduldige Meute, die vor dem Förderband steht. Die eine Hälfte der Passagiere eilt ihren Koffern entgegen und läuft anschließend in Richtung Ausgang, als würde sie von einer unsichtbaren Bestie verfolgt werden. Die andere Hälfte starrt so lange auf ihre Mobiltelefone, dass ihr Gepäck an ihnen vorbeifährt und sie diesem nachlaufen müssen. Daria ist die einzige, die mitgenommen vom Flug auf der hölzernen Sitzgruppe Platz genommen hat. Auch ist sie vermutlich die einzige, die den Koffern und Taschen auf dem Förderband keine Aufmerksamkeit schenkt. Denn sie starrt in Gedanken versunken auf einen Punkt in der Ferne.

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Wintersonnenwende
Fanfiction[ABGESCHLOSSEN | Yuri!!! on Ice Fanfiction] Nach zwei verletzungsbedingten Saisonausfällen, dem Rausschmiss aus Lilias Haus und der plötzlichen Trennung von Otabek gerät Yuri Plisetsky in eine Krise. Daher erscheint ihm Yakovs Beschluss, ihm eine ne...