Kapitel 38

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Kapitel 38

Turin, Italien

Sonntag, 08. Dezember 2019

„Ich komme gleich!", sagt Yuri an Yakov, Mila und Daria gerichtet. Er deutet ihnen an, dass sie vorausgehen sollen. Ein wenig angetrunken befinden sie sich alle im Hotelflur im fünften Stock. Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht, doch weder er, noch Yakov, Mila oder gar Daria denken daran, früh ins Bett zu gehen. Sie möchten feiern. Schließlich haben sie seit heute Abend zwei ausgezeichnete Gründe dafür.

Mila hat vor wenigen Stunden erst Silber geholt. Zunächst war sie ein wenig enttäuscht darüber. Nun aber strahlt sie bis über beide Ohren. Sie hat einen hervorragenden Lauf hingelegt und hätte den ersten Platz verdient. Sara Crispino ist aber besser gewesen und hat ihr um fünf Punkte die Goldmedaille vor der Nase weggeschnappt. Bei der Preisverleihung ist Mila noch ein wenig verärgert gewesen. Mittlerweile hat sie sich aber mit ihrem zweiten Platz arrangiert und freut sich auf die nächste Saison, von welcher sie sich mehr erhofft.

Dasselbe kann Yuri nicht behaupten. Natürlich könnte er immer mehr und mehr wollen. Jeder Mensch kann das. Dieses Verlangen nach Mehr hat sogar einen Namen. Er lautet Streben. Doch wonach soll Yuri streben, wenn er bereits ganz oben steht? Er hat es nämlich geschafft. Er hat sein Wort gehalten und tatsächlich Gold gewonnen.

Lebhaft kann er sich an seinen Lauf erinnern. Daria hat ihn, bevor er aufs Eis gestiegen ist, fest in die Arme genommen. Zum ersten Mal in ihrer Laufbahn als seine Trainerin hat sie ihm nichts ins Ohr geflüstert, sondern ihn fest an sich gedrückt und anschließend auf das Eis entlassen. Zunächst ist Yuri ein wenig verunsichert gewesen. Als er aber, kurz bevor die Musik begonnen hat, in ihre Richtung geschaut und ihr stolzes Gesicht gesehen hat, hat er gewusst, warum sie ihm keine letzten Worte mit auf dem Weg gegeben hat. Sie sind nicht nötig gewesen. Er hat auch ohne sie den wohl besten Lauf seines Lebens hingelegt. Dadurch hat er alle zum Staunen gebracht. Sich selbst miteingeschlossen. Er hat geahnt, dass er gewinnen wird. Auch hat er gewusst, dass er toll laufen wird. Aber er hat ganz sicher nicht damit gerechnet, sich selbst so zu übertreffen.

Das Gefühl, das er seit vorgestern Abend tief in sich vernommen hat, hat ihn nicht getäuscht. Seitdem er diese Choreografie läuft, die Daria als Vergebung und Blick nach vorne beschrieben hat, hat er gestern zum ersten Mal genau das gefühlt, worüber sie im Training immerzu geredet hat. Er hat keine Wut mehr vernommen, sondern sich frei und erleichtert gefühlt. Er hat an Otabek denken können, ohne auch nur einen Hauch von Zorn in sich zu spüren. Er ist dem Kasachen, der auf dem dritten Platz gelandet ist, einfach nur dankbar für das Gespräch am Abend davor gewesen. Denn durch dieses konnte Yuri ihm, aber auch sich selbst vergeben und in eine Zukunft schauen, die heller gestrahlt hat als jemals zuvor.

Auch wenn es ihm schwergefallen ist, genaue Bilder zu erkennen, da er konzentriert laufen musste, ist er sich sicher, Daria, Yakov, Lilia und seinen Großvater gesehen zu haben. Er hat auch Mila und Otabek gesehen, was auch immer das zu bedeuten hat. Und er hat sich selbst gesehen. Er ist auf dem Eis gewesen, umgeben von all diesen Menschen, die ihm so viel Liebe entgegengebracht haben, dass er noch während seiner Darbietung auf dem Eis das Gefühl hatte, sein Herz würde in tausend Teile zerspringen, weil es dermaßen viel Liebe nicht in sich aufnehmen kann.

Doch es ist nicht zersprungen. Es schlägt in seiner Brust und hält ihn genauso wie sein Wille, weiterhin sein Bestes zu geben, am Leben. Denn er möchte eines Tages wieder auf dem Eis stehen und in die Gesichter all jener Menschen blicken, die ihn auf seinem langen Weg zur Spitze begleitet haben.

Yuri stolpert über seine eigenen Füße. Allerdings fällt er nicht auf den Boden, sondern stützt sich am Türstock zu seinem Hotelzimmer ab und atmet einige Male tief durch. Vielleicht hätte er sich nicht von Mila überreden lassen sollen, so viel Alkohol zu trinken. Doch sie sind glücklich gewesen. Sie wollten seinen Sieg und Milas zweiten Platz feiern. Kann man es ihm also verübeln?

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