Wintersonnenwende

Kapitel 6

Kapitel 6

Jubileiny-Sportkomplex, St. Petersburg, Russland

Freitag, 11. Jänner 2019

„Wo ist nur das verdamme Scheißding?!", knurrt Yuri wütend. Er durchsucht seine schwarze Sporttasche gründlich, öffnet jedes Fach und tastet mehrmals den Boden ab. Er packt die Tasche sogar an den Ecken und leert deren Inhalt unter den kritischen Blicken einiger frisch geduschter Eisläufer auf dem dunkelblauen Linoleumboden der Umkleide aus. Mehrere verpackte Ersatzschnürsenkel für seine Eislaufschuhe, einzelne Taschentücher und seine Trinkflasche verteilen sich quer über dem Boden. Doch das Objekt seiner Begierde kann er nicht ausmachen.

Bestürzt lässt er sich auf eine niedrige Holzbank fallen und schaut auf das Chaos vor sich. Dabei überlegt er, wann er seinen iPod das letzte Mal gesehen hat. Er ist sich zu einhundert Prozent sicher, dass das kleine Gerät heute Vormittag noch hier in der Umkleide gewesen ist. Er hat es nach dem Training auf seine verschwitzte Sportkleidung gelegt und ist duschen gegangen. Er wollte nicht stinkend zum Unterricht mit seinem Privatlehrer erscheinen, der ihm dabei hilft, den Schulstoff der vergangenen Tage aufzuholen. Als er mit dem Duschen fertig gewesen ist, ist es kurz nach Mittag gewesen und in der Umkleide hat ein reges Kommen und Gehen geherrscht. Deswegen hat er sich beim Anziehen beeilt, sein wichtigstes Hab und Gut in den Schulranzen gestopft und seine Sporttasche im Spind verschlossen.

Erst im Bus auf dem Weg zum Unterricht ist ihm aufgefallen, dass sein iPod verschwunden ist. Er hat die ganze Fahrt über nach dem Gerät in seinem Ranzen gesucht, den iPod allerdings nicht gefunden. Verärgert und ein wenig nervös ist er aus dem Bus gestiegen, hat seinem Lehrer geschrieben, dass er heute nicht zum Unterricht kommen wird und ist wieder zurück zur Halle gefahren. Es wäre sinnlos gewesen, sich zum Lernen zu treffen. Yuri hätte dem Unterricht nicht folgen können, da er sich, wie er es auf der Rückfahrt im Bus getan hat, den Kopf darüber zerbrochen hätte, wo er seinen iPod verlegt haben könnte.

Ihm ist nur in den Sinn gekommen, dass er das Gerät unabsichtlich in seine Sporttasche gepackt haben könnte, als er, frustriert über die vielen Läufer und daher in Eile, diese in den Spind gesperrt und die Umkleide verlassen hat. Demnach hätte sich sein iPod in der Sporttasche befinden sollen. Denn er bezweifelt, dass er ihn auf dem Weg zum Bus oder im Bus selbst verloren hat. Auch kann er sich nicht vorstellen, dass ihn jemand gestohlen hat. Er kennt die Eisläufer, die sich zur Mittagszeit in der Umkleide eingefunden haben. Sie sind zwar keine Freunde, doch er traut ihnen nicht zu, seinen iPod zu entwenden. Niemand hätte einen Grund dazu, denn sie besitzen alle einen eignen MP3-Player. Auch ist jedem einzelnen bewusst, wie wichtig diese kleinen Geräte in ihren jeweiligen Leben sind. Sie brauchen und nutzen sie, wenn sie auf dem Eis sind und an ihren Kurzprogrammen oder Küren arbeiten. Also hätte niemand in der Umkleide einen Grund, Yuri zu bestehlen.

Doch wo könnte sein iPod sonst sein, wenn sich dieser weder in einer seiner zwei Taschen, noch im Spind der Umkleide befindet?

Yuri vergräbt die Hände in seinen langen blonden Haaren, die er heute offen trägt. Den Inhalt seiner Sporttasche lässt er verstreut am Boden liegen. Keiner dieser Gegenstände besitzt einen persönlichen Wert für ihn, ganz im Gegensatz zu seinem geliebten iPod. Ohne diesen wird er die Halle verlassen – nein. Ohne diesen kann er die Halle nicht verlassen! Wie soll er ohne seinen iPod die schreckliche Musik seiner Nachbarn ertragen? Wie soll er sich von seinen Gedanken an Otabek ablenken? Wie soll er nachts einschlafen? All das ist ohne Musik unmöglich!

Nein, denkt er sich und schüttelt den Kopf. Er darf nicht durchdrehen. Er muss ruhig bleiben, dann wird er dieses Scheißding auch finden. Es muss hier irgendwo sein!

„Denk nach, Yuri. Denk nach", fordert er sich selbst auf. Die irritierten Blicke der Läufer in der Umkleide ignoriert er, indem er die Augen schließt und einige Male tief durchatmet. In Gedanken geht er seinen Tagesablauf durch.