Kapitel 18

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Kapitel 18

Kai, St. Petersburg, Russland

Samstag, 02. März 2019

„Und hier bin ich wirklich gerne!", verkündet Yuri aufgeregt und streckt seine Arme von sich. Er, sein Großvater und Daria stehen am Kai. Sie sind alle warm angezogen und tragen dicke Winterjacken. Dennoch ist ihnen kalt. Das liegt nicht nur am eisigen Meereswind, welcher den Geruch von Salz in ihre Nasen trägt, sondern auch daran, dass sie seit fast zwei geschlagenen Stunden stramm durch St. Petersburg marschieren und sich von Yuri alle erdenklichen Orte und Sehenswürdigkeiten zeigen lassen. Mal sind es bedeutende Bauwerke, dann wiederum interessante, wenn auch weniger bekannte Plätze und gelegentlich, so wie jetzt, pittoreske Orte, an denen er sich gerne aufhält.

Daria hat ihren Schützling noch nie so aufgeweckt und energisch erlebt. Er scheint in der Nähe seines Großvaters ein ganz anderer Mensch zu sein. Fröhlich, lebendig und einfach nicht zu stoppen. Er plappert am laufenden Band und lässt weder sie noch seinen Großvater zu Wort kommen. Anfangs hat Nikolai alles mit zufriedener Miene über sich ergehen lassen und sich an der privaten Führung durch die Stadt erfreut. Mittlerweile merkt Daria ihm jedoch an, dass ihm der lange Spaziergang etwas zu viel wird. Er sieht müde aus und wirkt bei weitem nicht mehr so frisch, wie es noch am Morgen der Fall gewesen ist.

Auch Daria wird langsam müde. Ihre Beine fühlen sich schwer an und ihr Magen verlangt nach etwas Essbarem, da ihr gemeinsames Frühstück eine Weile zurückliegt und sie seither einige Kilometer zurückgelegt haben. Bisher hat sie ihr Hungergefühl ignorieren können. Sie ist von Yuris plötzlicher Wandlung dermaßen beeindruckt gewesen, dass sie schlichtweg darauf vergessen hat. Nie hat sie ihren jungen Mitbewohner so lebendig und glücklich gesehen wie just in diesem Augenblick. Er strahlt förmlich und ist mit jenem Yuri vor einem Monat nicht zu vergleichen.

Damals haben ihm beim Möbelkauf sämtliche Verkäufer und Kunden irritiert nachgeschaut. Denn seine finstere Miene ist dermaßen gruselig gewesen, dass man sich, wie bei einem schrecklichen Autounfall, vor lauter Grauen nicht abwenden konnte. Heute aber schauen ihm alle nach, weil er vor jugendlicher Energie nur so strotzt und bis über beide Ohren strahlt.

Das zeigt Daria, wie wichtig ihm sein Großvater ist. Dieser füllt Yuris Energiereserven und lockt einen sehr reizenden, jungen Sportler ans Tageslicht, an welchen sie sich tatsächlich gewöhnen könnte. Natürlich mag sie auch den üblichen, mürrischen Yuri, der meistens ein langes Gesicht zieht und sich über das Training, Mila und Yakov beschwert. Doch sie schätzt auch diesen aufgeweckten und lebhaften Yuri ganz besonders, denn er zaubert ihr mit seinen Erzählungen immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht.

„Yurachka, es ist wirklich unglaublich schön hier. Aber ich glaube, dass meine alten Beine eine Pause vertragen könnten. Noch dazu kann ich Dashas Magenknurren bis hierher hören und du weißt, dass meine Ohren mittlerweile nicht mehr die besten sind. Kennst du ein gutes Lokal, wo wir uns hinsetzen und etwas essen können?", unterbricht der ältere Herr Yuris stürmische Lobrede auf den Kai. Dabei legt er sich eine Hand auf den Bauch und deutet an, dass er mittlerweile ebenfalls hungrig ist.

Yuri verstummt sofort und schaut abwechselnd seinen Großvater und dann sie an. Er denkt eine Weile über den Vorschlag nach, ohne sie aus den Augen zu lassen. Kurz verfinsterst sich sein Gesichtsausdruck, weil ihm wohl kein gutes Lokal einfällt. Nach und nach erhellt sich allerdings seine nachdenkliche Miene und er schlägt sich mit der zur Faust geballten Hand in die zweite.

„Ja!", nickt er energiegeladen. „In der Innenstadt gibt es ein großartiges Lokal! Es ist wirklich gut und-"

„Innenstadt?!", entfährt es seinem Großvater ungläubig. Seine Augen weiten sich ein wenig.

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