Kapitel 4

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Kapitel 4

St. Petersburg, Russland

Montag, 07. Jänner 2019

Yuri öffnet langsam seine Augen, schließt sie jedoch sofort wieder, als er vom Licht der Sonne geblendet wird. Gedämpft scheint es durch das Fenster und die zusammengezogenen Vorhänge. Daher bedeckt er seine Augen schnell mit den Händen, dreht sich murrend zur Seite und legt eine Wange auf das weiche Kissen.

Er versucht sich eine Zeit lang gegen das Wachwerden zu wehren und verweigert sich der realen Welt. Lieber würde er in der rätselhaften, weichen Dunkelheit endlos weiterschlafen. Doch sein Körper verlangt nach neuem, natürlichem Licht.

Eine Weile liegt Yuri mit geschlossenen Augen da, ohne seine Haltung zu verändern. Gelegentlich zuckt sein Mundwinkel. Es wirkt, als würde er versuchen, ein kleines Insekt zu verscheuchen, das sich auf seine Wange gesetzt hat. Doch es möchte einfach nicht verschwinden. Es kitzelt ihn beharrlich, sodass sein Mundwinkel abermals zuckt. Unbewusst rümpft er die Nase und zieht den Kopf ein. Seine Schultern heben sich und seine schlanken Hände kommen unter der warmen Bettdecke zum Vorschein. Zunächst nur die linke, dann auch die rechte. Seine Finger lösen sich aus ihrer Starre, öffnen sich langsam und tasten ungeschickt über das Lacken, als würden sie nach etwas suchen. Dabei rutscht die Decke etwas nach unten.

Je mehr Zeit vergeht, umso tiefer dringt die reale Welt in sein langsam erwachendes Bewusstsein ein. Die aufkommende Übelkeit macht ihm zusätzlich bewusst, dass es ihm nicht mehr gelingen wird einzuschlafen. Sein Magen zieht sich zusammen und wahrscheinlich wird er sich bald übergeben müssen. Verfluchter Alkohol schießt es ihm durch den Kopf. Warum hat er gestern so viel getrunken? Doch als er mehrmals tief durchatmet, vergeht die Übelkeit zumindest zeitweise. Stattdessen treten andere unangenehme Empfinden auf, nämlich ein taubes Gefühl in den Armen und Beinen, leichtes Ohrensausen und Muskelschmerzen. Das liegt wohl daran, dass er viel zu lange in einer Position geschlafen hat.

Nachdem erneut einige Zeit verstrichen ist, richtet sich Yuri im Bett auf und schaut sich mit verschwommenem Blick um. Er realisiert schnell, dass er sich nicht in seinem schäbigen Studentenzimmer befindet. Der Raum ist außergewöhnlich hell und aufgeräumt. Er ist ohne Dekoration, weshalb er keine Rückschlüsse auf die Hobbys oder die Person zulässt, die hier normalerweise schläft. Würde er nicht ganz genau hinsehen, würde er vermutlich sogar annehmen, dass das Zimmer noch nicht einmal bewohnt ist. Nirgendwo sind persönliche Ziergegenstände zu sehen. Keine Bilder oder Andenken. Noch nicht einmal ein Kalender. Die beigefarbenen Vorhänge sind zugezogen. Trotzdem gelingt es einem einzigen Lichtstrahl, in den Raum zu dringen und ihn an der Nase zu kitzeln. Er rümpft sie missmutig.

Das schlichte Holzbett, in welchem er geschlafen hat, steht an einer weißen Wand. Das Bettzeug ist ebenfalls weiß und nicht gemustert. Im Eck an der gegenüberliegenden Wand befindet sich ein deckenhoher Kleiderschrank und daneben ein an die Wand montierter 18-Zoll-Fernseher. Neben dem Bett auf einem kleinen Nachtkästchen, das aus demselben Holz ist wie das Bett, liegen nur ein Lippenpflegestift und ein kleines Schächtelchen, das mit rotem Samt überzogen ist.

Die Informationen, die er diesem Raum entnehmen kann, um sich ein Bild jener Person zu machen, die hier lebt, sind nicht gerade üppig. Es wirkt, als wäre dieses Zimmer erst vor kurzem bezogen worden oder als würde die Person, welcher es gehört, ihre Persönlichkeit absichtlich verbergen wollen.

Welche dieser beiden Theorien auch immer zutrifft, spielt für Yuri keine Rolle. Er wird nervös. Seine Erinnerungen daran, wie er in dieses Zimmer gekommen ist, sind verschwommen. Sie befinden sich in den verborgensten Nischen seines Gedächtnisses, zu welchen er im Augenblick keinen Zugang hat. Daher kann er die sporadischen vorhandenen Bilder vor seinem inneren Auge in keinen logischen Kontext setzen.

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