Kapitel 26

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Kapitel 26

St. Petersburg, Russland

Donnerstag, 20. Juni 2019

Mit auf dem Waschbecken gestützten Händen schaut Yuri in den teils beschlagenen Spiegel im Badezimmer. Seine Haare sind nass. Sie hängen ihm über die Schultern und einzelne Wassertropfen fallen von seinen Haarspitzen auf den Boden, wo sich eine kleine Pfütze bildet. Er mustert seine hellen Augen.

Seitdem er mit Daria aus Kovalovo zurückgekehrt ist, hat er nicht mehr das Gefühl, derselbe Mensch zu sein. Er kann es nicht in Worte fassen, doch er fühlt sich anders. Nicht mehr einsam, sondern in den Arm genommen. Aufgehoben. Geliebt. Gebraucht. Es ist ein Gefühl des Wohlbefindens, das er seit der Trennung von Otabek vor einem halben Jahr nicht mehr verspürt hat.

Eine Zeit lang hat Yuri angenommen, dass er dieses Gefühl niemals wieder vernehmen wird. Er hat schließlich seine erste Liebe und womöglich auch die Liebe seines Lebens verloren. Wie soll es ihm gelingen, jemals wieder einen Menschen zu finden, den er so sehr schätzt, so sehr braucht und so sehr liebt, wie es bei Otabek der Fall gewesen ist?

Die meiste Zeit über hat er dieses Gefühl der Einsamkeit und den daraus resultierenden Frust einfach verdrängt. Wann immer er gespürt hat, dass es langsam aus dem hintersten Eck seines Bewusstseins hervorkriecht und ihn mit der Tatsache konfrontieren möchte, dass er Otabek verloren hat, hat Yuri versucht sich abzulenken. Er ist in die Eishalle gegangen und hat trainiert. Er hat so laut Musik gehört, dass er seine eigenen Gedanken nicht mehr gehört hat. Oder er ist zu Mila in die Bar gegangen und hat getrunken. Bier um Bier. Wodkaglas um Wodkaglas.

Meistens ist es ihm auf diese Art und Weise gelungen, die Einsamkeit zeitweise zu verdrängen, damit er sich nicht mit ihr beschäftigen muss. Doch gelegentlich ist ihm das nicht gelungen. Dann hat dieses Gefühl die Oberhand über seinen Körper gewonnen. Seine Hände haben zu zittern begonnen. Seine Atmung ist flach geworden. Manchmal hat er sogar das Gefühl gehabt, keine Luft mehr zu bekommen. Dieses Gefühl der Einsamkeit und der Frust, die jedes Mal gewachsen und größer geworden sind, je öfter er sie heruntergeschluckt hat, haben eine Art unsichtbares Seil um seinen Hals gelegt und an diesem gezogen. Dadurch hatte er das Gefühl, an all seinen Emotionen zu ersticken.

Doch seit dem Ausflug nach Kovalovo und Darias Geschenk, hat sich etwas in seinem Leben verändert. Etwas, was dieses Gefühl der Einsamkeit nicht nur verdrängt, sondern dagegen ankämpft und Tag für Tag eine weitere Schlacht gewinnt. Es ist ihm lange nicht bewusst gewesen. Er hat noch nicht einmal mitbekommen, dass die Tage, an denen er keine Luft bekommen hat, weil die Einsamkeit ihn erwürgen und auf sich aufmerksam machen wollte, immer seltener geworden sind.

Doch letzten Sonntag, als er nach dem Ausflug in den Badezimmerspiegel geschaut hat, hat er es gesehen – oder sollte er besser sagen, dass er sie gesehen hat? Daria ist auf einmal hinter ihm gestanden und hat so wie in der Schneiderei ihre Hände an seinen Schultern gelegt, ihn sanft angelächelt und ihm zugenickt.

Yuri ist über ihr plötzliches Erscheinen erschüttert gewesen. Er hat nicht gehört, dass sie ins Bad gekommen ist. Schließlich hat sie das bisher nie getan und falls es doch dazu gekommen ist, dass sie etwas aus dem Badezimmer benötigt hat, als er in diesem gewesen ist, hat sie auf sich aufmerksam gemacht, sodass er es ihr zwischen Tür und Angel reichen konnte. Als er sich an jenem Abend umgedreht hat, um sie anzuschauen, ist sie nicht mehr da gewesen. Sie ist wie gewöhnlich auf dem Diwan gelegen und hat sein Trainingsvideo studiert.

Erst am nächsten Morgen ist ihm unvermittelt klar geworden, was er im Spiegel gesehen hat. Es ist zwar Daria gewesen, doch sie ist kein Mensch gewesen. Sie war schlichtweg die personifizierte Zuneigung, die er in den letzten Wochen und Monaten zu spüren bekommen hat. Ein Abbild dessen, was er fühlt. An diesem Morgen ist nämlich nicht nur Daria hinter ihm gestanden und hat ihm in die Augen geschaut. Er hat sogar Yakov und einen Tag später auch Mila gesehen. Sie sind alle im Spiegel gewesen und haben ihm mit stummen Blicken etwas vermittelt, das sein Herz wohl schon lange vor ihm gewusst hat.

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