Kapitel 30

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Kapitel 30

Patinoire Polesud, Grenoble, Frankreich

Samstag, 02.November 2019

Was soll ich nur machen?, schießt es Yuri durch den Kopf. Er sitzt auf einer niedrigen Holzbank neben dem Eislaufplatz in der großen Halle, in welcher heute das Finale des Grand Prix in Frankreich stattfindet. Der erste Teilnehmer, der gestern nur den sechsten Platz belegt hat, Michele Crispino, läuft gerade seine Kür. Die Zuschauer auf den Publikumsplätzen feuern ihn lauthals an und klatschen bei jedem erfolgreich gelandeten Sprung.

Yuri nimmt von den Geschehnissen um ihn herum kaum etwas wahr. Er sitzt ruhig da und beobachtet Daria, die sich angestrengt mit Yakov unterhält. Sie blickt immer wieder auf ihr Tablet, das sie in der Hand hält, schaut dann auf Yakov und anschließend wieder auf den Bildschirm.

Worüber sich die beiden unterhalten, kann Yuri nicht sagen. In der Halle ist es außerordentlich laut. Die Musik dröhnt durch die Boxen und die Zuschauer auf den Rängen klatschen nach Micheles erfolgreicher Darbietung. Yuri hingegen hat seine Kopfhörer im Ohr und versucht sich auf die Musik zu konzentrieren, zu welcher er heute laufen wird.

Daria und er haben dieses Lied gemeinsam ausgesucht. Als sie es ihm vorgeschlagen hat, hat sie gemeint, dass sie an ihn denken würde, wenn sie es hört. Deshalb ist sie der Ansicht gewesen, dass es sein diesjähriges Programm abrunden würde, wenn er dazu läuft. Während sein Kurzprogramm wild und rebellisch ist, geht es bei der Kür darum, anderen Menschen zu verzeihen und nach vorne zu blicken. Das freie Programm stellt einen großen Kontrast zu seinem Kurzprogramm von gestern dar, doch Yuri ist von Darias Musikvorschlag und der Choreografie begeistert gewesen. Daher hat er Darias Choreografie auch angenommen und sie mit ihr zusammen passagenweise perfektioniert.

In den Trainings ist es ihm nicht schwergefallen, dieses Programm zu laufen. Es ist anstrengend gewesen und er war die ersten Male auch schnell aus der Puste. Doch er hat das Gefühl der Vergebung, von dem Daria immerzu gesprochen hat, von Tag zu Tag intensiver wahrgenommen. Das Gefühl, vorausschauen und sich neuen Herausforderungen im Leben stellen zu können. Er hat sich von Otabek gelöst und schreitet nun einer Zukunft entgegen, die heller und positiver erstrahlt als jemals zuvor.

Heute allerdings fühlt er sich nicht bereit, diese Choreografie zu laufen. Er spürt nämlich weder Vergebung, noch kann er seine positive Zukunft sehen. Die Vergangenheit nagt an ihm und führt ihm vor Augen, was für ein schrecklicher Mensch er ist.

Er hat im Trainingsraum, in dem sich die Sportler vor ihrer Darbietung auf dem Eis aufwärmen können, Otabek gesehen. Obwohl er nicht hinschauen oder ihn gar beobachten wollte, konnte er sich nicht von seinem Anblick lösen. Er hat zunächst an ihre gemeinsame Zeit und dann an die Trennung gedacht. Immerzu sind die Gedanken, dass er Schuld am Ende ihrer Beziehung habe, in seinen Kopf geschossen. Wenn er kein Arschloch gewesen wäre und Otabek besser behandelt hätte, dann wäre dieser niemals gegangen. Denn sein Ex-Freund hat es selbst gesagt: Er kann und er will so nicht mehr weiter machen.

Mit so ist einzig und allein die Tatsache gemeint, wie Yuri sich ihm gegenüber verhalten hat. Er hat all seinen Frust über die verpatzten Saisonen, seine Verletzungen und Unsicherheiten an ihm ausgelassen. Wenn Otabek ihn so behandelt hätte, wie er ihn behandelt hat, dann wäre Yuri schon längst über alle Berge gewesen. Otabek hat es aber lange mit ihm ausgehalten und ihm immer wieder aufs Neue eine Chance gegeben, die er eigentlich nicht verdient hat. Das hätten nicht viele getan.

Als es Yuri nach einer Weile gelungen ist, sich von Otabek abzuwenden, hat sein Kopf ihn sogleich an Yakov, den gestrigen Streit und Darias kaputte Spieluhr erinnert. Bei diesem Streit ging es doch einfach nur darum, dass Yakov von ihm verlangt hat, Otabek die Hand zu reichen, wenn sie es beide aufs Treppchen schaffen sollten. Yuri hätte seinem Ex-Freund noch nicht einmal in die Augen schauen oder ihn gar anlächeln müssen, wenn er seine Hand genommen hätte. Es wäre nur eine kurze Berührung, eine höfliche Geste des Respekts und der Anerkennung gewesen. Nicht mehr und nicht weniger.

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