Kapitel 36

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Kapitel 36

Turin, Italien

Freitag, 06. Dezember 2019

„Verflucht", kommt es schnaubend über Yuris Lippen. So schnell er nur kann, biegt er in eine Seitenstraße ein, läuft einige hundert Meter, biegt erneut ab und kurz darauf ein weiteres Mal. Er hofft, dass seine verrückten Fans, die ihm aus Russland bis hierher nach Turin gefolgt sind, ihn in dieser dunklen Gasse nicht finden werden. Er will sich nämlich nicht mit ihnen unterhalten und schon gar keine seltsamen Haarreifen mit Katzenohren aufsetzen!

Ja, er hat es getan, als er noch jünger gewesen ist. Aber mittlerweile ist er neunzehn und ein erwachsener Mann! Er trägt keine Haarreifen mit Katzenohren, nur weil er eine Vorliebe für Raubkatzen hat! Aus diesem Alter ist er schon längst raus. Noch dazu will er sich gar nicht vorstellen, was Daria und Yakov dazu sagen würden, wenn sie ein Bild von ihm mit Katzenohren in den Medien sehen würden. Daria wäre vermutlich amüsiert, was Yuri ärgern würde, und Yakov wütend, weil er sich in seiner freien Zeit bis zur morgigen Kür ausruhen und nicht mit Fans vergnügen soll.

Als ob Yuri sich mit seinen Fans vergnügen würde! Plagen sind das! Die reinsten Quälgeister, die ihm ständig ins Ohr quietschen und irgendwelche komischen Sachen von ihm verlangen, die unter seiner Würde liegen. Fans hin oder her, er muss nicht alles machen, was sie von ihm verlangen.

Yuri drückt sich an eine alte Backsteinmauer und hält den Atem an. Er hört einige Stimmen. Sie klingen weit entfernt und doch kommen sie immer näher. Sein Herz rast. Sein Puls muss weit über dem Normalwert liegen. Gesund kann das auf alle Fälle nicht sein. Er schaut sich verzweifelt um und folgt der dunklen Gasse. Sie wird doch wohl hoffentlich irgendwo hinführen, wo er sich vor diesen verrückten Weibern verstecken kann!

Doch das Glück scheint ihm nicht Hold zu sein, ganz im Gegenteil. Er findet sich schon bald vor einer großen, dreckigen Mauer wieder, die ihm den Weg versperrt. Das einstige Rot ist verblichen. Aus der Backsteinmauer haben sich einzelne Ziegel gelöst und Löcher hinterlassen, die Yuri an Zahnlücken erinnern. Eine Rankenpflanze bahnt sich ihren Weg über die heruntergekommene Mauer und klettert Stein für Stein nach oben. Noch hat sie das Dach des anschließenden Hauses nicht erreicht, doch viel fehlt ihr nicht mehr.

Links und rechts von ihm befinden sich Hauswände. Sie sind genauso dreckig und in die Jahre gekommen wie die Backsteinmauer selbst. Links kann er in der Höhe von etwa zwei Metern ein Fenster erkennen, während sich rechts von ihm eine Tür befindet. Mülltonnen oder andere Möglichkeiten, sich hinter etwas zu verstecken, gibt es nicht. Doch er muss schnell etwas finden, denn die Stimmen, die seinen Namen rufen, werden immer lauter.

Er hat gewusst, dass es verdammt noch mal eine beschissene Idee ist, nach jemandem zu suchen, der Darias Spieluhr reparieren kann. Er hätte auf sie und Yakov hören sollen, die ihm geraten haben, nach dem Training am Vormittag einfach im Hotel zu bleiben und sich zu entspannen, damit er morgen bei Kräften ist. Sie haben nach einem frühen Mittagessen das Hotel zusammen mit Mila verlassen, um sie bei ihrem Kurzprogramm zu unterstützen. Selbst Daria ist auf Drängen der Sportlerin mitgekommen. Komischerweise ist Mila wirklich aufgeregt gewesen.

Yuri hat die neu gewonnene Freiheit und das Unwissen aller über seinen Verbleib genutzt und das Hotel verlassen. Er ist zunächst in einige Läden in der Nähe des Hotels gegangen, um Juweliere und Uhrmacher zu bitten, die Spieluhr zu reparieren. Doch jeder einzelne hat den Kopf geschüttelt und ihn wieder weggeschickt. Als Yuri beschlossen hat, es in der Innenstadt zu versuchen, sind ihm einige junge Mädchen aufgefallen. Sie sind hinter ihm gestanden, haben die Köpfe zusammengesteckt und verräterisch zu kichern begonnen.

Zunächst hat er sich nichts dabei gedacht. Er hat angenommen, dass es sich um gewöhnliche Mädchen handelt, die ihn süß finden. So sind Teenager nun mal. Doch als er in einem weiteren Laden gewesen ist und darauf gewartet hat, dass der Uhrmacher sich die Spieluhr anschaut, ist ihm aufgefallen, dass die Mädchen sich verdoppelt haben und aufgeregt an der Scheibe zum Laden klebten, um in diesen zu schauen. Erst in diesem Moment ist ihm bewusst geworden, dass das keine gewöhnlichen Mädchen sind, die ihn schlichtweg süß finden, sondern verrückte Fans, die einige andere informiert haben.

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