Kapitel 16

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Kapitel 16

St. Petersburg, Russland

Donnerstag, 28. Februar 2019

Daria lauscht den sanften Klavierklängen, die von einer alten Stereoanlage wiedergegeben werden. Sie erfüllen die kleine Küche der Wohnung. Leise summt sie zu Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 2, die von der Pianistin Valentina Lisitsa zum Besten gegeben wird. Das Stück nähert sich seinem Höhepunkt und treibt Daria ein sanftes Lächeln auf die Lippen.

Als sie im Alter von acht Jahren klassische Musik das erste Mal bewusst wahrgenommen hat, hat es sich für sie wie aus einer anderen Welt angehört. Vermutlich ist ihre besondere Anziehungskraft darin gelegen, dass Daria damit das Eislaufen in Verbindung gebracht hat. Als Kind ist sie nämlich mehrmals in der Woche in der Eishalle ihrer Geburtsstadt Graz gewesen und hat diverse Ouvertüren von Rossini, Liszt und Beethoven gehört. Dabei hat sie erfahrene österreichische Läuferinnen beobachtet, die nicht nur an ihren Küren gearbeitet oder sich dem Training gewidmet haben, sondern wie bildschöne Feen über das Eis geschwebt sind.

Von allen Liedern hat ihr Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 am besten gefallen, ganz besonders die Friska. Diese ist nicht nur heiter und lebhaft, was Daria sehr imponiert hat. Auch bringt sie damit eine wunderschöne österreichische Eisläuferin in Verbindung, die vor fast zwanzig Jahren eine Kür zu diesem Stück gelaufen ist.

Noch heute entsinnt sich Daria ihrer eleganten und anmutigen Bewegungen. Ihre Schrittfolge ist von unverwechselbarer Schnelligkeit gewesen und ihr leicht verträumter Gesichtsausdruck beim Laufen hat Daria jedes Mal aufs Neue verzaubert. Sie hatte, während sie der jungen Frau beim Laufen zugesehen hat, ständig das Gefühl, dass diese Läuferin die Musik nicht hört, sondern sie lebt.

Es ist dieser aufregende Gedanke gewesen, der Daria in Ekstase versetzt hat. Diese Läuferin, deren Namen sie schon wieder vergessen hat, falls sie ihn je gekannt hat, hat ihr unbewusst eine Welt gezeigt, die niemand sonst sehen konnte. Es ist, als hätte man Daria allein den Zugang zu einem geheimen Eispalast gestattet. Sie hat sich erhaben gefühlt, denn Liszts Ungarische Rhapsodie hat ihr das Gefühl gegeben, eine Eisprinzessin zu sein.

Sie hätte der jungen Läuferin liebend gern von ihren Gefühlen und Tagträumen erzählt. Doch sie haben nicht zu den Dingen gehört, die man einem anderen, unbekannten Menschen im Alltag erzählt. Außerdem ist sie sich noch nicht einmal sicher gewesen, ob sie das, was sie empfunden und geträumt hat, es überhaupt wert gewesen wäre, an jemanden weitergegeben zu werden. Also hat sie diese Gedanken und Träume für sich behalten und auf dem Eis versucht, die junge Läuferin nachzuahmen.

Als sie älter gewesen ist, haben Chris und Josef sie oft für ihre einzigartige Darstellung der Musik in Form von Bewegungen gelobt. Sie haben ihr gesagt, dass Daria sie auf eine Art und Weise verzaubert, wie es niemandem sonst gelinge. Die Art, wie sie zur Musik laufe, sei unverkennbar. Es ist, als wäre sie nicht mehr in der Realität, sondern einer von ihr geschaffenen, neuen Welt. Und wenn man ihr dabei zuschaut, fühle man sich irgendwie besonders, weil man das Privileg besitze, diese neue Welt mit ihr betreten zu dürfen.

Daria hat in ihrem ganzen Leben nie ein schöneres Kompliment erhalten. Diese Worte haben sie wissen lassen, dass sie ein persönliches Ziel, von dem sie bis zu diesem Augenblick noch nicht einmal gewusst hat, dass sie es sich gesteckt hat, erreicht hat. Sie hat sich Zeit ihrer Karriere als Eisläuferin nichts anderes gewünscht, als anderen Menschen ihre Art des Hörens und Spürens von Musik zu vermitteln, so wie es einst dieser jungen Läuferin gelungen ist.

Sie stellt die Schüssel mit der Schokoladenmasse zur Seite und wendet sich der Backform zu. Yuri hat morgen Geburtstag und sie möchte ihm einen Kuchen backen. Ob ihm ihr Schokoladenkuchen zusagen wird, kann sie nicht abschätzen. Doch bisher hat sich noch niemand darüber beschwert. Also wird er ihm hoffentlich schmecken.

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