Kapitel 25

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Kapitel 25

Kovalovo, Russland

Sonntag, 16. Juni 2019

Eigentlich wollte Yuri heute nicht das Haus verlassen. Seitdem er aufgestanden ist, hält sich seine Motivation, überhaupt einer Tätigkeit nachzugehen, in Grenzen. Vermutlich ist Darias Aussage, dass sie eine Überraschung für ihn hätte, gepaart mit ihrem Blick, in welchem eine stumme Bitte – oder gar Aufforderung? – lag, der Grund dafür gewesen, weshalb er sich vom Diwan geschält, umgezogen und mit ihr zusammen zum Bahnhof begeben hat, um in den Zug zu steigen und St. Petersburg zu verlassen. Womit sie ihn überraschen möchte, weiß Yuri nicht. Sie hat ihm nicht sonderlich viel verraten, außer dass sein Geschenk nicht zu ihm kommen kann, weshalb er eben zu seinem Geschenk gehen muss.

Anfangs hat er angenommen, dass sie irgendetwas Spannendes gefunden hat. Ein architektonisches Gebäude, was sie ihm zeigen möchte, weil es ihn inspirieren könnte. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass er zu dieser Überraschung fahren muss und die Überraschung nicht zu ihm kommen kann. Doch je länger sie unterwegs sind, umso sicherer ist er sich, dass ihre Überraschung mit keinem bekannten Bauwerk zusammenhängt, sondern es sich um etwas vollkommen anderes handeln muss. Doch bisher weiß er nicht, was das sein könnte.

Stattdessen sitzt er in diesem provinzialen Zug und distanziert sich von St. Petersburg. Sein Kopf ist gegen die kühle Scheibe des Fensters im Wagon gelehnt. Mit müdem Blick schaut er aus diesem. Die Landschaft zieht schnell an ihm vorbei. Doch das stört ihn nicht. Es gibt nichts Spannendes, was er näher betrachten möchte, denn alles, was er sieht, sind langweilige Ortschaften, einige kleinere Fabrikhallen sowie großer Felder, die sich gen Horizont erstrecken und in voller Blüte stehen. Die Sonne strahlt erbarmungslos vom Himmel und blendet ihn gelegentlich, sodass er sich abwenden muss. Dann schaut er auf Daria. Sie sitzt ihm gegenüber und tippt konzentriert auf ihrem Tablet. Vermutlich analysiert sie mal wieder sein Training, um morgen mit ihm an jenen Sachen zu arbeiten, die in ihren Augen nicht perfekt sind.

So sind die letzten zwei Monate wie im Flug vergangen. Vormittags hat er mit Daria sein neues Programm trainiert. Sie hat es erst kurz nach Katsudons und Viktors Eisshow fertiggestellt und ihm gezeigt. Er ist genauso beeindruckt gewesen wie das erste Mal. Auch dieses Mal hat sie ihn eiskalt erwischt und das nicht nur mit der Choreografie, die wahrlich fantastisch, wenn auch unglaublich anstrengend ist. Sie hat ihn auch erneut in einen Bann gezogen, den er nicht in Worte fassen kann. Er weiß nur, dass er seine Augen nicht von ihr nehmen konnte, als sie gelaufen ist und ihm gezeigt hat, was sie sich vorstellt.

Am Abend hat er meistens mit Yakov an seiner Technik gearbeitet. Er ist genauso streng gewesen wie Daria es jeden Vormittag ist. Immer wieder hat er dieses und jenes kritisiert, bis Yuri es so umgesetzt hat, wie sein Trainer es wollte. Anfangs hat es ihn gestört, doch nach und nach ist ihm bewusst geworden, dass sowohl Daria als auch Yakov es nur gut meinen. Sie wollen, dass er die nächsten Meisterschaften für sich entscheidet und das wird ihm nur gelingen, wenn er keinen einzigen Fehler macht.

Daher hat er sich bald nicht mehr daran gestört, von ihnen kritisiert zu werden. Er hat genau zugehört, versucht ihre Kritik zu verinnerlichen und sie dann umzusetzen, was ihm mittlerweile immer öfter gelingt. Deswegen sind Yakov und Daria in den letzten Tagen während der Trainings immer ruhiger geworden. Sie kritisieren ihn nicht mehr, sondern scheinen mit seiner Leistung zufrieden zu sein.

An den Wochenenden hat Mila ihn zuerst nur gelegentlich, dann aber immer öfter zum Ballett geschleppt. Er ist von dieser Idee nicht begeistert gewesen und hat schon vom ersten Tag an gewusst, dass er mit dieser seltsamen Lehrerin in der Ballettschule auf keinen grünen Zweig kommen wird. Natürlich ist sie von seiner Beweglichkeit begeistert gewesen – und zwar so sehr, dass sie ihm das Angebot gemacht hat, in ihrer Show aufzutreten. Doch er hat abgelehnt und das aus einem mehr als nur seltsamen Grund: Lilia.

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