Kapitel 3
St. Petersburg, Russland
Sonntag, 06. Jänner 2019
Daria zieht die dunkelblaue Winterjacke enger um ihren Körper. Sie friert. Wer annimmt, dass St. Petersburg im Jänner bei Tag schon kalt ist, der ist noch nie in St. Petersburg bei Nacht unterwegs gewesen. Die Winde sind eisig, die Straßen rutschig und die Fensterschreiben gefroren.
Sie hat angenommen, dass sie mit dem kalten Wetter in diesem Land gut zurechtkommen wird, schließlich lebt sie schon seitdem sie zehn Jahre alt ist in der Schweiz. Lange, tiefe Winter sind dort keine Seltenheit und haben sie abgehärtet. Aber St. Petersburg ist anders und wird vermutlich auch immer anders bleiben.
Daria seufzt leise, während sie schnellen Schrittes in eine schmale, verwinkelte Gasse einbiegt. Viele Menschen kommen ihr nicht entgegen. Die meisten eilen mit tiefgezogenen Mützen und einem dicken Schal, den sie sich bis über die Nase gezogen haben, nach Hause oder flüchten sich in diverse Lokale, um sich dort aufzuwärmen. Daria kann es ihnen nicht verübeln. Nur wenige Minuten in dieser sibirischen Kälte reichen aus, um auch in ihr das Verlangen nach einer warmen Unterkunft zu wecken. Daher fällt ihr ein Stein vom Herzen, als sie am Ende der Gasse die kleine Taverne sehen kann, die sie gesucht hat.
Nachdem Yuri heute Vormittag wütend aus der Eishalle gestürmt ist, hat sie mit Yakov und Mila ein langes Gespräch geführt. Sie haben hauptsächlich über Yuri und sein rebellisches Verhalten gesprochen. Yakov ist nach Yuris Abgang außer sich gewesen. Auch Mila hat zunächst kein gutes Haar an ihm gelassen. Das hat Daria aber nicht gewundert, schließlich hat Yuri während des Trainings keine Rücksicht auf sie genommen. Er ist wohl in seiner eigenen, kleinen Welt gewesen, von welcher Daria annimmt, dass sie im Augenblick weder rosarot noch hell erleuchtet ist. So, wie sich dieser junge Mann auf dem Eis benommen hat, wird einem schnell klar, dass er sich in einem sehr tiefen und dunklen Loch befindet.
Doch Yakov und Mila haben ihr auch verraten, dass dies nicht immer so gewesen ist. Als Yuris sich vor drei Jahren in den Kopf gesetzt hat, das Grand Prix Finale in Barcelona zu gewinnen, hat er hart an sich gearbeitet. Er hat regelmäßig trainiert und auf das gehört, was Yakov und Lilia ihm gesagt haben. Dadurch konnte er sein Ziel auch erreichen und mit nur fünfzehn Jahren Gold in der Senioren-Liga gewinnen.
In der Zwischenzeit hat sich aber vieles verändert und aus dem einst fokussierten jungen Sportler ist ein rebellischer Teenager geworden, der sich lieber in einer modernen Taverne als auf dem Eis aufhält. Das hat ihr Mila verraten, kurz bevor Daria zusammen mit Yakov die Eishalle verlassen hat. Auf ihre Frage, wo sie denn Yuri finden könne, um allein mit ihm zu reden, hat Mila ihr geraten, am Abend in jener Taverne vorbeizuschauen, in welcher sie angestellt ist.
Warum Mila in dieser Taverne arbeitet, ist Daria ein Rätsel. Mila wird nämlich finanziell vom russischen Eislaufverein unterstützt und müsste nicht in solchen Lokalitäten verkehren, wo ihr alte Männer und junge Studenten auf den Hintern starren. Trotzdem macht sie es. Ob es daran liegt, dass sie neben dem Eislaufen einer ganz normalen Tätigkeit nachgehen möchte? Wenn man nämlich andauernd auf dem Eis steht und schon bald nichts anderes mehr im Kopf hat als das Eislaufen selbst, kann man schnell den Bezug zur realen Welt verlieren. Besonders schlimm ist das für jene Läufer, die neben dem Eislaufen tatsächlich keiner anderen Tätigkeit nachgehen und sich am Ende ihrer Karriere auch in einer existenziellen Krise befinden, weil sie nicht mehr wissen, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. Mila wird das aber bestimmt nicht passieren. Dafür ist die junge Läuferin viel zu selbstständig. Außerdem scheint sie auf dem Boden geblieben zu sein, was Daria sehr an ihr schätzt.
Die Schritte der jungen Schweizerin hallen zwischen den barocken, dreistöckigen Gebäuden beängstigend laut wider. Die Fassaden, die einst für ihre farbenfrohe Schönheit und verschnörkelte Ornamentik bekannt gewesen sind, sind mit den Jahren verblichen. An manchen Stellen blättert der Putz bereits ab, sodass man darunter rote Backsteinziegel erkennen kann. Hier und da wurden Wände mit Graffiti besprüht, was in Daria ein unbehagliches Gefühl weckt. Doch sowohl Yakov als auch Mila haben ihr versichert, dass dieser Teil der Stadt mehr als nur sicher ist und ihr nichts zustoßen wird. Verbrechen, Überfälle und andere kriminelle Geschehnisse werden häufig in anderen Stadtteilen begangen. Wäre dies nicht der Fall, würde Mila nicht in jener Taverne arbeiten, vor welcher Daria nun stehen bleibt.
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Wintersonnenwende
Fanfiction[ABGESCHLOSSEN | Yuri!!! on Ice Fanfiction] Nach zwei verletzungsbedingten Saisonausfällen, dem Rausschmiss aus Lilias Haus und der plötzlichen Trennung von Otabek gerät Yuri Plisetsky in eine Krise. Daher erscheint ihm Yakovs Beschluss, ihm eine ne...