Kapitel 12

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Kapitel 12

Jubileiny-Sportkomplex, St. Petersburg, Russland

Donnerstag, 31. Jänner 2019

Yuri verlangsamt sein Tempo auf dem Eis, bereitet sich mental auf eine Pirouette vor und geht anschließend in eine Drehung über. Als Yakov gestern in der Früh in die Eishalle gekommen ist, hat er laut verkündet, dass er mit ihm an seinen Pirouetten arbeiten möchte. Er ist nämlich der Meinung, dass Yuri diese in den letzten Monaten stark vernachlässigt hat, wodurch sie technisch gesehen schlampig ausgeführt werden und ihm in einer Meisterschaft wertvolle Punkte kosten können.

Yuri vertritt diese Ansicht nicht, ganz im Gegenteil. Seine Drehungen sind einwandfrei, wunderschön und präzise ausgeführt! Daher hat er sich zunächst geweigert, mit Yakov zu trainieren. Warum sollte er an seinen Pirouetten arbeiten, wenn es andere, viel wichtigere Elemente in seinem Kurzprogramm gibt? Die Sprünge, die Darias Programm vorsieht, sind nicht ohne und kosten ihn viel Kraft. Es wäre also wesentlich sinnvoller, sich auf diese zu konzentrieren, anstatt an seinen Pirouetten zu arbeiten.

Erst als Mila und Daria ihm bestätigt haben, dass er auf dem Eis tatsächlich unsicher wirkt, wenn er sich in einer Drehung befindet, hat er widerwillig nachgegeben und sich Yakos Anweisungen gefügt. Was bleibt ihm denn auch anderes übrig? Wenn er die nächsten nationalen und internationalen Meisterschaften für sich entscheiden möchte, wird er wohl oder übel auf das hören müssen, was Yakov und Daria ihm sagen.

Daher arbeitet er seit den frühen Morgenstunden an seinen Drehungen in diversen Posen und Haltungen, von denen er mittlerweile selbst merkt, wie schwer sie tatsächlich durchzuführen sind, wenn man sie richtig und mit deutlich mehr Spannung macht, als er es bisher getan hat. Sein gesamter Körper schmerzt. Seine Muskeln brennen. Doch er wird weitermachen, zumal dieses Training im Augenblick eine willkommene Ablenkung von seinen Gedanken ist, die immerzu um dasselbe Thema kreisen – oder sollte er besser sagen, um dieselbe Person?

Seitdem er Daria letzte Woche gesagt hat, dass er mit ihr zusammenziehen wird, fragt er sich andauernd, ob er die richtige Entscheidung getroffen hat. Er kennt diese Frau nicht wirklich. Er hat sich zwar hin und wieder mit ihr unterhalten und ja, sie ist nun auch seine Trainerin. Aber was weiß er tatsächlich über sie?

Sie hat ihren Verlobten an den Tod verloren und dieser Schmerz setzt ihr wohl sehr zu. Er kann das nachvollziehen, wenn auch nicht zur Gänze verstehen. Ihm wurde ebenfalls das Herz gebrochen, da Otabek ihn einfach so, ohne Vorwarnung oder jegliche Anzeichen, verlassen hat. Dieser Idiot hat ihn, Yuri Plisetsky, einfach aus seinem Leben gestrichen, als hätte er ein Buch geschlossen und es zurück ins Regal gestellt. Aber Yuri ist kein Buch. Er ist ein Mensch mit Gefühlen und lässt sich nicht einfach so in ein Regal zwängen, auch nicht von Otabek Altin!

Bei Daria ist es aber anders. Sie hat dieses Buch nicht von sich aus geschlossen. Es wurde ihr grausam aus den Händen gerissen und zurück in ein Regal gestellt, das zusätzlich mit mehreren Sicherheitsschlössern versperrt wurde, sodass sie niemals wieder darauf zugreifen kann. Alles, was ihr übriggeblieben ist, sind ihre Erinnerungen daran, wie es einst gewesen ist, dieses Buch in den Händen gehabt zu haben. Wie es sich angefühlt hat. Wie es gerochen hat. Doch jetzt ist es für immer in einem Regal versperrt, auf das sie Zeit ihres Lebens keinen Zugriff haben wird.

An jenem Abend, als er mit Potya aus dem Studentenheim geflohen ist, sie aufgesucht und ihr gesagt hat, dass er mit ihr in eine gemeinsame Wohnung ziehen wird, hat er den Schmerz in ihren blauen Augen gesehen. Sie hat zwar über seine Worte, dass es scheiße sei, einen geliebten Menschen an den Tod zu verlieren, geschmunzelt. Doch er konnte die Trauer in ihren Augen deutlich erkennen, obwohl er mit solch verletzten Menschen nie zuvor etwas am Hut hatte. Sie sind seltsam. Irgendwie bedrückt und in ihrer eigenen, dunklen Welt gefangen. Daher hat er sich von ihnen ferngehalten, sie sogar gemieden!

WintersonnenwendeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt