Kapitel 11

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Kapitel 11

St. Petersburg, Russland

Dienstag, 22. Jänner 2019

Daria liegt frisch geduscht auf dem dunklen Diwan in ihrer Suite. In den Händen hält sie ihr Tablet. Auf diesem wird gerade ein Video von Yuris heutigem Training abgespielt.

Obwohl sie Yuri seit fast drei Wochen genau beobachtet und ihn seit über einer Woche trainiert, ist sie nach wie vor von ihm und seinem unfassbaren Talent beeindruckt. Es ist ihm binnen weniger Tage nicht nur gelungen, das Kurzprogramm, welches sie für ihn erstellt hat, zu erlenen. Auch setzt er es auf dem Eis sehr eindrucksvoll in Szene. Auf ein ungeübtes Auge macht seine Darbietung den Eindruck, als ob er diese Choreografie schon sein Leben lang läuft. Denn sie repräsentiert ihn nahezu perfekt. Allerdings liegt das nicht an seinen fehlerfreien Durchgängen, sondern an der Wut, die er für jedermann fast schon greifbar darstellt.

Daria ist bewusst gewesen, dass Yuri sehr viel Wut in sich trägt, denn er hat sie nicht vor ihr versteckt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht geschrien. Doch das schier grenzenlose Ausmaß dieses starken Gefühls hat sie erst auf dem Eis zur Gänze erfassen können. Er drückt es dermaßen wild, ehrlich und kraftvoll aus, dass es Daria gelegentlich die Sprache verschlägt.

In diesen Momenten muss sie sich ins Gedächtnis rufen, dass Yuri kein blutiger Anfänger mehr ist, auch wenn er sich manchmal wie einer benimmt. Er ist ein erfahrener Läufer, der von klein auf nur mit den Besten der Besten zusammengearbeitet und sogar ein Grand Prix Finale für sich entschieden hat. Sie sollte also nicht darüber verwundert sein, dass er auf dem Eis seine Gefühle dermaßen imposant ausdrücken kann.

Ein kurzes Lächeln huscht über ihre Lippen, während sie weiterhin Yuris Trainingsvideo analysiert. Für gewöhnlich ist sie dabei sehr genau. Sie spult einzelne Passagen immer wieder zurück, um sie noch einmal anzusehen, stoppt sie oder vergrößert einen Ausschnitt, um die Durchführung einer Bewegung besonders kritisch in Augenschein zu nehmen. Es ähnelt einem Ritual, das sie stets vor dem Schlafengehen durchführt, um sich mental auf den nächsten Tag und somit auch das Training mit Yuri vorzubereiten.

Doch ihre Kraftreserven neigen sich allmählich dem Ende zu. Egal wie sehr sie sich auch anstrengt, es fällt ihr zunehmend schwerer, die Augen offen zu halten und sich auf das Video zu konzentrieren. Dadurch entgehen ihr etliche Fehler und Unsauberkeiten, an denen Yuri noch arbeiten muss. Denn sein Lauf weist an einigen Stellen nicht die Perfektion auf, die Daria sich wünscht und Yakov sich erwartet.

Auch bezweifelt sie, dass er mit der momentanen Darbietung des Kurzprogramms in der Lage ist, eine nationale oder internationale Meisterschaft für sich zu entscheiden. Die Konkurrenz schläft nicht, sondern präsentiert sich auf dem Eis in ihrer besten Form, was man von Yuri leider nicht behaupten kann. Er versucht es sich während des Trainings nicht anmerken zu lassen und meckert auch nicht, dass ihr Training zu anstrengend sei. Aber seine Kondition hat nachgelassen und muss genauso aufgebaut werden wie seine Technik, von welcher Yakov immerzu behauptet, dass er sie schleifen lässt und daher unsauber ist.

Allerdings hat Yuri in den vergangenen Tagen so einige Fortschritte erzielt. Yakov behauptet zwar, dass er lediglich Anfängerfehler ausgebessert habe und sich nun langsam seiner ehemaligen Form annähere. Doch Daria sieht selbst in Yuris Bedürfnis, sich dieser Fehler bewusst anzunehmen und sie auszubessern, eine positive Entwicklung, weshalb sie davon überzeugt ist, dass es ihm schon sehr bald gelingen wird, sein neues Kurzprogramm fehlerfrei zu laufen.

Das plötzliche Klopfen an ihrer Hotelsuite reißt sie aus ihren Gedanken. Fordernd und wild hämmert jemand gegen ihre Tür.

Daria runzelt die Stirn. Wer könnte das sein? Der Zimmerservice jedenfalls nichts. Abgesehen davon, dass sie nichts bestellt hat, würde das Personal nicht mit solch einer Ungeduld an ihre Tür klopfen und wortlos danach verlangen, dass sie diese öffnet – oder doch? Vielleicht ist ja etwas passiert und man will sie auffordern, ihr Zimmer schnellstmöglich zu verlassen.

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