Kapitel 23

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Kapitel 23

St. Petersburg, Russland

Sonntag, 07. April 2019

Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen liegt Yuri im Bett und starrt gedankenverloren an die Decke. Es ist dunkel im Zimmer. Nur durch einen Spalt zwischen den Vorhängen gelangt gelbliches Licht in den Raum. Gelegentlich fährt auch ein Auto am Gebäude vorbei. Dann fällt ein fahler, weißer Lichtstrahl durch das Fenster, erhellt das Zimmer für einen Augenblick, bevor dieses kurz darauf wieder von der Dunkelheit verschlungen wird.

Yuri weiß nicht, wie lange er schon in dieser Position liegt. Nachdem er aus dem Bad gekommen ist, hat er zu Daria gesagt, dass er sofort schlafen gehen würde und ist daraufhin in seinem Zimmer verschwunden. Ihren fragenden Blick spürt er nach wie vor in seinem Rücken, was womöglich auch der Grund dafür ist, warum er nicht schlafen kann.

Er hat zwar versucht, die Augen zu schließen und sich ins Reich der Träume fallen zu lassen, doch bisher ist ihm das nicht gelungen. Er muss ständig an diese Eisshow, an Viktor und das Schweinchen sowie Daria und ihren Blick denken. Dieser will ihm, egal wie sehr er sich anstrengt, einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Es ist nämlich kein gewöhnlicher Blick gewesen, den Daria an den Tag gelegt hat, als sie bei der Eisshow gewesen sind. Es war nicht der prüfende Blick einer jungen Trainerin oder der liebevolle einer Freundin, die ihren guten Freund beim Eislaufen beobachtet. Es ist auch nicht der Blick eines Fans gewesen, der von Viktor oder dieser Eisshow begeistert gewesen ist. Es ist ein ganz eigener, einzigartiger Blick gewesen, welchen Yuri nicht definieren kann.

Darias Augen haben geglänzt, während sie Viktor beim Laufen zugesehen hat. Sie hat jede seiner Bewegungen aufgenommen, als ob sie ein Schwamm wäre. Sie hat irgendwie entspannt und zugleich unheimlich aufgeregt gewirkt. Es ist eine seltsame Mischung aus innerer Ruhe und äußerer Nervosität gewesen, von der Yuri sich nicht abwenden konnte. Wie jemand, der von einem Problem fasziniert ist, hat er Daria lange betrachtet. Erst als sie ihm in die Augen geschaut und ihn gefragt hat, ob etwas los sei, hat er sich von ihrem Anblick lösen und Viktor zuwenden können. Doch ihren Blick und diese seltsame Aura, die sie umgeben hat, konnte und kann er nicht aus seinem Kopf verbannen.

Er hat angenommen, dass er, inspiriert von Darias Aura, schon bald dasselbe sehen würde wie sie. Er hat gehofft, dass er schon bald genauso gebannt auf Viktor und Katsudon schauen wird. Doch Yuri hat sich bei bestem Willen nicht auf die Darbietung der beiden Eisläufer konzentrieren können. Er hat es versucht! Er hat sein Bestes gegeben! Er hat jede Bewegung und Regung in den Gesichtern von Viktor und Yuri mit zusammengekniffenen Augen in sich aufgenommen, als ob sein Leben davon anhängen würde. Aber seine Bemühungen haben nicht gefruchtet, denn er hat beim besten Willen nicht das gesehen, was Daria und Mila während der Eisshow dermaßen in den Bann gezogen hat.

Vielleicht aber liegt es nicht an ihm, dass ihm das nicht gelungen ist. Was, wenn Viktor und Katsudon schuld daran sind? Vielleicht haben es die beiden als Paar nach Viktors Soloeinlage ja nicht mehr geschafft, das aufs Eis zu zaubern, was Daria und Mila zuvor dermaßen fasziniert hat.

Nein, denkt sich Yuri und schüttelt kaum merklich den Kopf. Sie haben es geschafft, denn er kann sich noch sehr gut daran erinnern, dass Daria selbst während des Paarlaufs und später auch beim Einzellauf vom Schweinchen genauso gebannt auf die Eisfläche geschaut hat, wie es bereits bei Viktors Solodarbietung der Fall gewesen ist. Das heißt, dass seine Trainerin Viktor und Yuri nicht deswegen beobachtet hat, weil sie die zwei attraktiv findet. Yuri bezweifelt nämlich stark, dass Daria Interesse an einem zu klein geratenen Japaner hat. Es muss daher etwas anderes sein, was sie an ihnen fasziniert hat und weshalb sie den beiden dermaßen ehrfürchtig zugesehen hat.

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