Kapitel 27

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Kapitel 27

Patinoire Polesud, Grenoble, Frankreich

Freitag, 01.November 2019

Die große Eishalle, in welcher Daria sich befindet, ähnelt jenen Hallen der vergangenen Wochen und Monate. Die Saison hat zwar schon im Juli begonnen, doch die ersten Wettbewerbe sind erst im September auf nationaler Ebene abgehalten worden. Bis dahin hat sie beinahe täglich mit Yuri und später auch in Beisammensein mit Yakov und Lilia an der Darbietung des Kurzprogramms und der Kür ihres Schützlings gearbeitet. Dementsprechend hat sich Yuri bei seinen ersten Wettbewerben in Russland hervorragend geschlagen und alle anderen Teilnehmer in den Schatten gestellt.

Niemand hat angenommen, dass Yuri ein dermaßen starkes Comeback hinlegen wird. Alle Teilnehmer haben ihn unterschätzt und sich zunächst sogar über ihn lustig gemacht. Aber weder Yuri noch Daria haben hingehört. Sie haben sich einfach nur auf ihre Darbietung konzentriert und schon nach den ersten Takten alle Menschen in den Zuschauerrängen und sämtliche Teilnehmer an der Absperrung ins Staunen versetzt.

Seither hat niemand es mehr gewagt, schlecht über Yuri zu reden, ganz im Gegenteil. Auf nationaler sowie internationaler Ebene geht das Gerücht um, dass Yuri dieses Jahr nicht nur in Bestform ist, sondern auch ein potentieller Anwärter auf den Grand Prix Sieg.

Solche Nachrichten stellen für Yuri natürlich einen Motivationsschub dar. Er hat sich seine Unsicherheit beim ersten Wettbewerb in St. Petersburg nicht anmerken lassen, doch Daria hat diese genau gespürt. Allerdings ist er schon bald mit jedem weiteren Wettbewerb entspannter und zugleich ehrgeiziger geworden. Er wollte sich ständig selbst übertreffen, was ihm letzten Endes auch gelungen ist, sodass er einen neuen persönlichen Rekord aufstellen konnte.

Diesen möchte er nun, auf internationalem Eis, abermals brechen und Daria wird alles daran setzen, ihn dabei zu unterstützen. Yuri hat es nämlich verdient, von allen anderen Eisläufern außerhalb Russlands als ehrwürdiger Konkurrent anerkannt zu werden.

Doch am heutigen Tag fällt es ihr irgendwie schwer, die Trainerin zu sein, die sie bei den letzten Bewerben auf nationaler Ebene gewesen ist und die Yuri verdient hat. Denn sie fühlt sich nervös und aufgeregt.

Doch warum? Liegt es etwa an den vollen Tribünen und der schieren Masse an Zuschauern? Nein, schüttelt sie den Kopf. Sowohl sie als auch Yuri sind solche Menschenmengen gewohnt, egal ob nun in Russland oder woanders auf der Welt. Das Eislaufen erfreut sich einer zunehmend größeren Beliebtheit, was die gefüllten Zuschauerränge auch beweisen. Ein jeder Läufer genießt es, bejubelt zu werden und je lauter die Massen, umso motivierter sind die Läufer.

Kann es also sein, dass sie so nervös ist, weil sie in Frankreich sind und das an die Schweiz grenzt? Während des Fluges von St. Petersburg nach Frankreich hat sie sich oft gefragt, ob die plötzliche Nähe zu ihrer einstigen Heimat sie aufwühlen wird. Sie kann es sich nämlich nicht leisten, mit ihren Problemen aus der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Schließlich ist sie nicht nach Frankreich gekommen, um hier Urlaub zu machen, sondern um Yuri als Trainerin in diesem Bewerb zu unterstützen.

Daher sollte sie sich auf ihn und nicht auf sich konzentrieren. Das gelingt ihr tagsüber auch, weil sie sich mehr oder weniger unaufhörlich den Kopf über Yuri und sein Wohlergehen zerbricht. Nur abends überkommen sie ihre Erinnerungen an die Schweiz und stimmen sie irgendwie traurig. Sie scheint Matthias näher denn je zu sein. Und trotzdem ist sie noch immer viel zu weit entfernt.

Daria atmet tief durch. Sie hat keine Zeit, darüber nachzudenken, wie lange es dauern würde, mit dem Zug in die Schweiz zu fahren und Matthias' Grab zu besuchen. Sie muss für Yuri da sein und das ist wahrlich wichtiger denn je, zumal Otabek genauso hier sein und auf demselben Eis laufen wird wie Yuri.

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