Kapitel 37

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Kapitel 37

Turin, Italien

Samstag, 07. Dezember 2019

Schon beim Frühstück hat Daria bemerkt, dass Yuri heute anders ist. Sie ist sich sicher, dass das nicht nur am großen Finale und der Tatsache liegt, dass er reelle Chancen auf den Sieg hat. Er liegt nur einen Punkt hinter Jean-Jaques und kann diesen mit einer fabelhaften Kür tatsächlich auf den zweiten Platz verweisen.

Nein. Yuri ist anders. Denn Daria kennt jenen konzentrieren Yuri, der er sonst immer ist, wenn er vor einem wichtigen Lauf steht. Dann spricht er nicht viel, sondern ist in seiner eigenen Welt, in welcher er den ganzen Tag über Konzentration sammelt, bis er schlussendlich auf dem Eis steht und allen beweisen kann, was in ihm steckt.

Heute aber ist er lebhaft, ja man könnte fast schon sagen, dass er wahrhaftig glücklich ist. Ein teils freches, als auch zufriedenes Grinsen ziert seine Lippen. Er ist bester Laune. Von seiner griesgrämigen Miene, die er sonst an den Tag legt, ist heute nichts zu sehen. Es ist, als hätte jemand in seinem Kopf einen Schalter umgelegt, allerdings nicht den richtigen. Anstatt in seiner eigenen Welt zu sein und sich mental auf den heutigen Lauf vorzubereiten, ist er so glücklich, als hätte er bereits Gold gewonnen. Dabei kann noch viel passieren, denn sie dürfen die anderen Teilnehmer nicht unterschätzen.

Der junge Kenjirou, der von Viktor und dem japanischen Yuri trainiert wird, ist ein starker Gegner. Er könnte das ein oder andere Ass im Ärmel haben und sich trauen, es herauszuziehen. Auch darf Yuri seinen Ex-Freund Otabek nicht vergessen, der zwar beim letzten Grand Prix und auch beim Kurzprogramm vorgestern keine besonders starke Leistung gezeigt hat, aber im freien Programm mit der richtigen Motivation und mentalen Stärke durchaus gefährlich werden kann.

Daria hat sich am Frühstückstisch nicht getraut, Yuri auf seine gute Laune anzusprechen. Sie hat sich bloß daran erfreut und versucht, Mila im Zaun zu halten, die neben sich gestanden ist. Sie ist, obwohl sie mittlerweile schon oft in einem Grand Prix Finale gestanden ist, dieses Mal besonders aufgeregt gewesen. Daria hat ihre Worte nicht ganz verstanden, denn Mila hat die meiste Zeit über in ihren nicht vorhandenen Bart genuschelt. Doch sie glaubt, so etwas wie ‚letzte Saison' und ‚meine Chance' gehört zu haben.

Yakov hat schnell eingelenkt und Mila vor wenigen Minuten in die zweite Eishalle zum Trainieren gebracht, während sie mit Yuri im kleinen Badezimmer seines Hotelzimmers steht und sein langes blondes Haar bürstet. Seine gute Laune ist noch immer nicht verflogen. Im Gegensatz zu seinem gewöhnlichen Schweigen und dem teils gesenkten Kopf, wenn sie sich um seine Haare kümmert, mustert er sie heute ganz genau. Dabei entgeht ihr sein gelegentliches Schmunzeln nicht.

„Also gut", sagt sie und hält im Bürsten inne. „Was ist los? Warum bist du heute so glücklich, hm?"

„Darf ich denn nicht glücklich sein?"

„Normalerweise bist du immer hoch konzentriert, wenn es um dein freies Programm und eine Goldmedaille geht. Aber jetzt bist du das überhaupt nicht. Du strahlst wie ein Atomreaktor, als hättest du schon Gold gewonnen."

„Habe ich auch", kommt es selbstsicher von Yuri. Daria schüttelt amüsiert den Kopf.

„Wir haben Samstag und nicht Sonntag! In knapp vier Stunden stehst du auf dem Eis und wirst deine Kür präsentieren. Du hast noch nicht gewonnen, Yuri!"

„Doch. Das habe ich. Ich weiß es", entgegnet er ihr. Das siegessichere Grinsen weicht nicht von seinen Lippen.

Daria ist irritiert und zugleich erfreut. Sie schätzt seine positive Einstellung – sie begrüßt sie sogar! Wenn man etwas erreichen möchte, dann ist es wichtig, es sich auch vorstellen zu können. So kommt man seinem Ziel immer näher. Allerdings darf man von sich selbst nicht zu überzeugt sein und muss die Konkurrenz immer im Auge behalten. Yuri hat das bisher immer gewusst. Er ist auch stets besonders aufmerksam gewesen und hat sie immer wieder nach ihrer Meinung zu anderen Läufern und Choreografien gefragt. Das hat Daria gezeigt, dass er seine Konkurrenz respektiert.

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