Kapitel 35

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Kapitel 35

Turin, Italien

Donnerstag, 05. Dezember 2019

Das Aufeinandertreffen mit ihrem Vater in Moskau liegt fast drei Wochen zurück. Dennoch lässt es Daria nicht los. Nachts träumt sie vom Gesicht ihres Vaters. Sie kann ihn deutlich vor sich sehen und hört seine Stimme. Wenn sie aufwacht, erscheint ihr alles sehr verschwommen, als hätte sich eine Nebelschwade über ihren Traum gelegt. Doch sie weiß genau, dass sie sein Gesicht klar gesehen und seine Stimme deutlich vernommen hat.

Wenn Daria nicht in ihren sicheren vier Wänden ist, erwischt sie sich gelegentlich dabei, wie sie einen Blick über ihre Schulter wirft oder ein wenig besorgt in die Gesichter der ihr entgegenkommenden Passanten schaut. Auch wenn sie kein einziges Wort mit ihrem Vater gewechselt hat und er dadurch nicht wissen kann, dass sie mittlerweile in Russland lebt, so würde es ihm vermutlich nicht schwerfallen, sie in St. Petersburg ausfindig zu machen, um mit ihr zu reden.

Doch das will sie nicht. Sie will nicht mit ihrem Vater sprechen oder ihm gar in die Augen schauen. Sie will sich nicht an all das erinnern, was vor so vielen Jahren geschehen ist und sie möchte schon gar nicht mit jenem Gefühl der Hilflosigkeit konfrontiert werden, das sie als Fünfzehnjährige gespürt und am Abend ihres Aufeinandertreffens vor knapp drei Wochen abermals vernommen hat.

Daria ist kein kleines Kind mehr, das von ihren Eltern abhängig ist. Sie ist eine erwachsene Frau, die im Leben ihre eigenen Entscheidungen trifft. Und zu solch einer Entscheidung zählt nun mal auch jene, dass sie nichts mehr mit ihrem Vater zu tun haben möchte. Yuri hat nämlich recht, wenn er sagt, dass sie ihm weder in die Augen schauen, noch in ihr Leben lassen oder gar verzeihen muss. Sie muss nichts von all diesen Dingen machen, zu welchen sie sich einfach nicht bereit fühlt.

Vielleicht wird sie es einmal ja sein. Vielleicht wird sie sich wünschen, ihren Vater zu sehen und mit ihm zu reden. Vielleicht überkommt sie eines Tages, wenn sie älter sein und einen Weg gefunden haben wird, um mit ihrem Schmerz umgehen zu können, das Bedürfnis, ihm zu verzeihen. Doch bis dahin will sie nichts von ihm wissen und auch nichts von ihm hören. Sie will das Leben führen, das sie bisher gelebt hat und zwar in St. Petersburg als Yuris Trainerin, Yakovs Co-Trainer und Milas beste Freundin. Sie hat sich bewusst für dieses Leben entschieden und sie wird daran festhalten. Ein Zusammentreffen mit ihrem Vater – ob nun gewollt oder ungewollt – wird nichts daran ändern.

Ein schmales Lächeln zeichnet sich beim Gedanken an ihren selbsternannten kleinen Bruder auf ihren Lippen ab. Manchmal ist Yuri wahrlich ungestüm und sehr direkt. Mit dieser Art kann er Menschen leicht verletzen. Das hat er des Öfteren auch getan. Aber manchmal, insbesondere in Momenten wie jenen vor drei Wochen, kann seine Art hilfreich sein. Denn mit seinen harten Worten hat er sie realisieren lassen, dass sie kein kleines Kind mehr ist, das sich dem Willen ihres Vaters beugen muss. Sie kann ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und wenn sie nichts mit ihm zu tun haben möchte, dann wird ihr Vater nichts daran ändern können. Sie muss ihm nämlich nicht verzeihen.

Obwohl sie Yuri immer wieder predigt, dass er sich von seelischen Lasten lösen und den Menschen vergeben soll, die ihm Leid angetan haben, so kann und soll es wahrscheinlich Ausnahmen geben. Je nach Schwere einer Sünde braucht man nun mal länger oder kürzer, um jemandem zu vergeben. Das ist in Ordnung. Nur zu sagen, dass man jemandem vergibt, ist nicht dasselbe, wie es tatsächlich zu tun. Selbst wenn Daria behaupten würde, dass sie ihrem Vater verzeiht, so weiß sie ganz genau, dass diese Worte nicht der Wahrheit entsprechen würden. Denn tief in ihrem Inneren ist sie noch immer verletzt und braucht mehr als dreizehn Jahre, um die Wunde, die er ihr zugefügt hat, verheilen zu lassen. Eine Narbe wird trotzdem zurückbleiben.

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