Kapitel 22

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Kapitel 22

St. Petersburg, Russland

Samstag, 06. April 2019

Daria schaut in Gedanken versunken aus dem Fenster des Busses, in dem sie gemeinsam mit Yuri sitzt. Zusammen fahren sie zur Eisshow, zu welcher Viktor und der japanische Yuri sie am Dienstag eingeladen haben.

Draußen regnet es in Strömen. Der prasselnde Regen klopft heftig an die Fensterscheiben und hält dadurch sämtliche Passagiere wach. Draußen ist es schon dunkel. Alles, was Daria sieht, wenn sie aus dem Fenster schaut, sind die gelben Lichtkegel der Straßenlaternen, die sich in regelmäßiger Abfolge am Rand entlangziehen. Für einen kurzen Moment wird es hell im Bus, wenn sie unter einer Laterne vorbeifahren. Ein Licht wurde eingeholt. Doch es wird schon im nächsten Augenblick zum alten Licht, um dann unwiderruflich auf der Strecke zu bleiben und durch ein neues Licht ersetzt zu werden. Dieses Schauspiel wiederholt sich unaufhörlich und in einem stetigen Rhythmus.

Der Regen erinnert Daria an jenen Abend, als sie und Yuri vom gemeinsamen Essen mit Viktor und seinem japanischen Verlobten nach Hause gegangen sind. Ganz klar vernimmt sie Yuris Worte in ihrem Ohr, der sie an jenem Abend in dieser menschenleeren Seitenstraße gebeten hat, ihn nicht alleine zu lassen. Ganz genau kann sie sich auch noch an ihre eigenen Worte erinnern, die ihm versprochen haben, bei ihm zu bleiben. Zu gut entsinnt sie sich der innigen Umarmung, in welcher sie sehr lange gestanden sind und noch wesentlich länger geblieben wären, wenn der plötzlich einsetzende Regen sie nicht überrascht und nach Hause getrieben hätte.

In dieser Nacht haben sie sich zum ersten Mal ein Bett miteinander geteilt. Sie haben allerdings nicht miteinander geschlafen, sondern sind lediglich nebeneinander ins Reich der Träume geglitten, nachdem sie Beethovens Für Elise mehrere Male abgespielt haben.

Daria hat genau gewusst, warum Yuri in jener Nacht bei ihr sein und nicht in seinem Zimmer schlafen wollte. Sie hat ihn besser verstanden, als er es sich vermutlich vorstellen kann. Denn vor über einem Jahr ist es bei ihr nicht anders gewesen.

Nachdem Matthias verstorben ist, hat ihr bester Freund Chris eine ganze Woche lang bei ihr geschlafen, um sie nachts nicht alleine zu lassen. Sie hatten keinen Sex. Er hat sie lediglich gehalten und ihr dadurch das Gefühl vermittelt, nicht alleine zu sein. Auch wenn das im Angesicht der Situation, in welcher sie sich befunden hat, nur ein sehr schwacher Trost gewesen ist, so ist sie Chris für seine Hilfe, Unterstützung und Geduld nach wie vor sehr dankbar. Nie wird sie vergessen, was er in dieser Woche für sie getan und wie viel Kraft er ihr dadurch gespendet hat.

Und genauso wie Chris für sie da gewesen ist, möchte sie nun auch für Yuri da sein. Er soll wissen, dass er sich immer auf sie verlassen kann. Er soll wissen, dass er über alles mit ihr reden kann. Und er soll auch wissen, dass er immer ins Bett kommen und sich zu ihr legen kann, wenn er sich einsam fühlt. Denn genau dieses Gefühl der Einsamkeit sollte ein so junger Mann wie er nicht verspüren.

Wenn man einsam ist, denkt man viel nach. Man versucht zwar, gegen dieses Gefühl anzukämpfen, indem man sich rationaler Gedanken besinnt. Doch zugleich merkt man nicht, wie schnell man sich im Strudel der Negativität verliert und letzten Endes in einem tiefen, dunklen Loch sitzt. Der einzige Partner, der sich ebenfalls dort befindet, ist die Einsamkeit, die so plötzlich von einem Besitz ergreift, dass man schon bald nicht mehr in diesem Loch sitzt, sondern liegt. Man rührt sich nicht mehr. Das will man auch gar nicht. Man will einfach nur sterben.

Aber der Tod erlöst keine einsamen Seelen. Er sammelt sie nicht ein und bringt sie zu den anderen, damit man nicht mehr allein ist. Er nimmt einem nur den Körper, eine menschliche Hülle, sodass man sich letzten Endes als Geist in diesem tiefen, dunklen Loch befindet. Und das erneut vollkommen alleine.

WintersonnenwendeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt