Kapitel 7

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Kapitel 7

Kai, St. Petersburg, Russland

Samstag, 12. Jänner 2019

Seit dem Tod ihres Verlobten Matthias ist es Daria gewohnt, keinen richtigen Schlaf mehr zu finden. Entweder wälzt sie sich in der Hoffnung, eine angenehme Schlafposition zu finden, die ganze Nacht lang von einer Seite auf die andere, oder sie fällt in einen leichten, traumlosen Schlaf, aus welchem sie am nächsten Morgen müder erwacht, als sie es am Abend zuvor gewesen ist.

Doch diese Nacht hat sie einen neuen Tiefpunkt erreicht. Sie hat immerzu an Yuri und ihren Streit denken müssen. Dadurch hat sie sich mehrere Stunden schlaflos im Bett hin und her gewälzt. Um halb drei hat sie beschlossen, den Fernseher einzuschalten, um sich zumindest zeitweise von den Geschehnissen am Vortag abzulenken. Doch ihr Versuch ist vergebens gewesen. Obwohl sie bis in die frühen Morgenstunden alte russische Schwarz-Weiß-Filme geschaut hat, sind ihre Gedanken immer wieder zu Yuri gewandert.

Die ganze Nacht lang hat sie sich gefragt, was sie falsch gemacht hat und ob sie diesen Streit hätte verhindern können. Vermutlich schon, wenn sie sich nicht von unablässiger Sorge getrieben an jeden erdenklichen Strohhalm geklammert hätte, der ihr zur Verfügung gestanden ist – und Yakovs Aussage, dass Yuri ihr erlaubt hätte, seinen iPod zu nutzen, ist weitaus mehr als ein Strohhalm gewesen. Es hat wie ein stabiles Gerüst ausgesehen, von welchem sie nicht im Entferntesten daran gedacht hat, dass es über ihr einstürzen könnte.

Heute weiß sie, dass es dumm gewesen ist, den iPod vorbehaltlos an sich zu nehmen. Sie hätte wesentlich misstrauischer sein müssen, als Yakov ihr diesen in die Hände gedrückt und gesagt hat, dass es in Ordnung sei, ihn zu benutzen. Daria hätte nachfragen und sich erkundigen sollen, ob Yuri tatsächlich damit einverstanden ist. Ihr ist schließlich bewusst gewesen, dass sie mit dem Hören der Musik in seine Privatsphäre eindringt.

Einen Augenblick lang ist ihr der Gedanke in den Sinn gekommen, dass er es nicht gutheißen wird, sie mit seinem iPod in den Händen zu sehen. Diesen Gedanken hat sie aber schnell beiseitegeschoben. Ihr Ziel, Yuri mit einer Choreografie zu überraschen, hat in diesem Augenblick einen weitaus wichtigeren Stellenwert eingenommen als ihre moralischen Bedenken. Denn sie ist unter Druck gestanden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nämlich noch kein Lied parat, zu welchem er hätte laufen sollen.

Natürlich hätte sie auch ohne Musik eine Choreografie auf die Beine stellen und sie Yuri zeigen können. Dann hätte er ausschließlich die Technik bewerten und sich auf Basis dieser für oder gegen eine Zusammenarbeit mit ihr entscheiden können. Doch das wollte Daria nicht. In dem Bedürfnis, Yuri mit einer fertigen Choreografie zu beeindrucken, hat sie sich bedenkenlos der Suche nach einem passenden Lied hingegeben. Denn nur mit diesem hätte er ihr eine reelle Chance ermöglicht, sich als Trainerin zu beweisen und in Russland bleiben zu können.

Aber jetzt?

Daria hat jegliche Hoffnung verloren, Yuris Trainerin zu werden. Er hat ihr Anfang dieser Woche eine Chance gegeben, die sie aber nicht nutzen konnte. Eine zweite Chance wird er ihr nach dem gestrigen Fehltritt nicht mehr zusprechen, egal wie oft sie sich bei ihm entschuldigt. Yuri wird nicht nachgeben und ihr schon gar kein Vertrauen entgegenbringen. Wie soll ihm das überhaupt gelingen, wenn sie bereits am Anfang einer potentiellen Zusammenarbeit sein Vertrauen auf diese Art und Weise missbraucht? Vermutlich fühlt sich für ihn das gestrige Missverständnis wie ein Schlag ins Gesicht an und das, obwohl er schon längst am Boden liegt und sich nicht mehr wehren kann.

Dabei hat Daria den jungen Sportler nicht absichtlich verletzen oder sein Vertrauen missbrauchen wollen, ganz im Gegenteil. Sie möchte Yuri eine helfende Hand reichen, um ihn wieder auf die Beine zu ziehen. Er hat es nämlich nach all seinen privaten und beruflichen Niederlagen verdient, einen Sieg zu verbuchen. Und Daria ist sich sicher, dass es ihm früher oder später auch gelingen wird, selbst wenn sie nicht an seiner Seite stehen wird.

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