Kapitel 9

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Kapitel 9

Jubileiny-Sportkomplex, St. Petersburg, Russland

Mittwoch, 16. Jänner 2019

„Ich werde sehen, was ich für dich tun kann", sagt Yakov. Er nickt Daria zu, wendet sich von ihr ab und verlässt die Eishalle. Daria schaut ihm kurz hinterher, ehe sie auf Yuri blickt, der sein neues Kurzprogramm ein weiteres Mal läuft.

Daria ist froh, dass Yuri zugestimmt hat, mit ihr zusammen zu arbeiten. Er hätte aus Trotz nein sagen und ihr den Vorfall mit seinem iPod auf ewig vorhalten können. Allerdings scheint ihn die Choreografie, die sie für ihn zusammengestellt hat, dermaßen begeistert zu haben, dass er darüber hinwegsehen konnte, um ihr nun eine Chance als seine Trainerin zu ermöglichen, wodurch sie in St. Petersburg bleiben darf. Wie sonst wäre seine Aussage, dass sie sich am Montag um acht Uhr in der Eishalle treffen, zu verstehen gewesen?

Ein erleichtertes Lächeln huscht über Darias Lippen, bevor sie auf ihr Tablet in den Händen schaut. Nun, da sie ihre erste Hürde genommen und Yuri davon überzeugt hat, als Trainerin in Russland bleiben zu können, sieht sie sich bereits mit den nächsten Herausforderungen konfrontiert. Eine davon ist der russische Eislaufverein, von welchem sie offiziell übernommen und eingestellt werden muss. Ihr ist bewusst, dass Yakov ein gutes Wort für sie einlegen wird. Dennoch wird es nicht leicht werden, die Verbandsmitglieder von ihr zu überzeugen. Schließlich muss sie bezahlt werden und wer weiß, wie willig der Verband einer solchen Investition gegenübersteht.

Eine weitere Herausforderung ist der Wohnungsmarkt in St. Petersburg. Früher oder später wird Daria eine eigene Wohnung benötigen, denn sie kann nicht auf ewig in einem Hotel wohnen. Zwar wird sie dieses nicht vor die Tür setzen, solange sie für ihre Suite bezahlt. Doch ihre finanziellen Mittel neigen sich langsam dem Ende zu, wodurch sie sich den Luxus einer Junior Suite nicht sehr viel länger leisten kann.

Allerdings hatte sie bisher keine Gelegenheit, sich nach einer passenden Wohnung umzusehen, zumal sie bis Sonntag noch nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob sie überhaupt in Russland bleiben wird. Dies hat sich erst ergeben, nachdem Yuri indirekt gemeint hat, dass er ihr Kurzprogramm akzeptiert und mit ihr zusammenarbeiten wird. Seither hat sie sich ausschließlich mit ihm und der erstellten Choreografie beschäftigt. Sie hat ihm ihre Gedanken und Intentionen hinter der Liedauswahl erklärt, die Choreografie mit ihm durchbesprochen und jene Sprünge aufgewertet, die sie bei der Präsentation am Sonntag nicht springen konnte. Auch hat Yuri einige Vorschläge für spezifische Übergänge in die Diskussion eingebracht, welche Daria angenommen und mit ihm gemeinsam in die Choreografie eingebaut hat, sodass sie nun beide mit dem Endergebnis mehr als zufrieden sind.

Yuri scheint sich mit diesem Kurzprogramm sehr wohl zu fühlen. Es spiegelt genau das wider, was er dem Publikum und anderen Läufern vermitteln möchte, aber nicht in Worte fassen kann. Wut, Frust und Stärke sind dabei die wichtigsten Komponenten. Zugleich hat er technisch anspruchsvolle Sprünge und Drehungen in der Choreografie, die ihm einen Platz in den obersten Rängen garantieren werden. Daria zweifelt nicht daran, dass er in der kommenden Saison allen beweisen wird, wer Yuri Plisetsky tatsächlich ist und dass man ihn immer auf dem Radar haben sollte.

Dennoch ändert das nichts an ihrer immer misslicher werdenden Lage, dass sie eine eigene Wohnung benötigt. Ein einzelnes Zimmer würde grundsätzlich genügen, solange es groß genug ist. Doch sie hofft inständig, dass der Verein, sofern er sie als Trainerin aufnehmen sollte, ihr eine etwas größere Wohnung zur Verfügung stellen wird. Auf einen gewissen Komfort möchte sie nicht verzichten. Doch sie wird mit allem, was ihr überhaupt angeboten oder gar vom Verein finanziert wird, dankbar und zufrieden sein. Schließlich ist sie erst vor kurzem nach Russland gekommen. Sie kann daher nicht erwarten, dass sie im Verband denselben Stellenwert einnimmt wie Yakov, der bereits seit Jahren mit diesen Menschen erfolgreich zusammenarbeitet.

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