Kapitel 31

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Kapitel 31

Moskau, Russland

Donnerstag, 14.November 2019

„Oh, du Arme. Ich habe wirklich nicht gewusst, dass du so empfindlich aufs Fliegen reagierst", hört Daria ihre mittlerweile engste Freundin Mila sagen. Sie, Yuri und Daria sitzen auf einer breiten Holzbank in jenem Bereich des Flughafens, in welchem das Gepäck ankommt und auf Fließbändern transportiert wird. Mila sitzt rechts von ihr und streicht ihr sanft über den Rücken. Yuri hingegen hat links von ihr Platz genommen und reicht ihr gelegentlich eine Wasserflasche.

Sie fühlt sich schrecklich. Sämtliches Blut ist aus ihrem Gesicht gewichen, sodass sie einem Geist ähneln muss. Ihre Sicht ist ein wenig verschwommen. Alles in ihrem Kopf dreht sich. Man merkt ihr deutlich an, dass sie kein besonders großer Fan vom Fliegen ist und schon gar nicht vom Landen. Ihr wird schnell schlecht und das Gefühl, sich übergeben zu müssen, begleitet sie selbst nach der Landung über mehrere Stunden hinweg.

Es gibt gute Tage, an denen sie sich nur etwas schwummrig fühlt, wenn das Flugzeug landet und sie wieder festen Boden unter den Füßen hat. Doch es gibt leider auch Tage, an denen sie das Gefühl hat, nicht zu sich kommen zu können, weil sie sich im Geiste noch immer hoch über den Wolken befindet.

Und heute ist genau so ein Tag. Dabei sind sie noch nicht einmal zwei Stunden im Flieger gesessen, zumal sie nur von St. Petersburg nach Moskau geflogen sind. Diese Distanz hätten sie auch mit dem Wagen oder dem Zug zurücklegen können. Doch Yakov hat aufgrund des schweren Gepäcks und der vielen Koffer darauf bestanden, den Flieger zu nehmen. Deshalb hat sich Daria geschlagen gegeben und ist mitgeflogen. Mittlerweile bereut sie es jedoch. Denn sie hat das Gefühl, noch immer nicht auf ihren eigenen Beinen stehen zu können, obwohl die Landung mittlerweile mehr als eine halbe Stunde zurückliegt.

„Ist das in Frankreich auch so gewesen?", erkundigt sich Mila. Daria hält den Kopf gesenkt. Das Gesicht ist in ihren Händen vergraben. Die Augen hält sie geschlossen.

„Nicht dass ich wüsste. In Frankreich ist alles ganz normal gewesen. Und auch, als wir zurückgekommen sind", antwortet Yuri. Er spricht ruhig und keineswegs frustriert über ihren Schwächeanfall. Das beruhigt Daria ein wenig, denn sie hätte im Augenblick bestimmt nicht die Nerven, sich auch noch mit einem miesepetrigen Yuri herumzuschlagen.

„Frankreich war anders", presst sie gequält hervor und legt den Kopf in den Nacken. Ihre Augen hält sie weiterhin geschlossen.

„Auf dem Hinflug habe ich mir Sorgen über alles Mögliche gemacht und auf dem Rückflug war ich noch immer glücklich darüber, dass Yuri den zweiten Platz gemacht hat."

Yuri hat vor zwei Wochen eine grandiose Leistung aufs Eis gezaubert. Er ist im Finale jene Choreografie gelaufen, die sie in den vergangenen Monaten tagtäglich trainiert haben und die er dementsprechend selbst im Schlaf kann. Seine Wertungspunkte sind sehr hoch gewesen und für einen kurzen Moment hat er sogar die Führung übernommen. Nur Jean-Jaques Leroy hat ihn mit zwei Punkten Vorsprung geschlagen, wodurch Yuri auf dem zweiten Platz gelandet ist.

Das hat ihre gute Laune allerdings nicht getrübt, denn sie alle – selbst Yuri! – sind über dieses wundervolle Ergebnis und seinen fehlerfreien Lauf begeistert gewesen. Sie haben nach diesem mehr als nur nervenaufreibenden Finale ihre Sorgen und Bedenken hinsichtlich des anstrengenden Wochenendes in Frankreich endlich hinter sich lassen und sich entspannen können, was ihnen allen zu Gute gekommen ist.

Lediglich Otabeks vierter Platz hat sie ein wenig gewundert. Obwohl Yuri, Yakov und sie von seinem Lauf überzeugt gewesen sind und ihr Schützling an einem Punkt während der Kür von Otabek gemeint hat, dass es ihm sogar gelingen könnte, ihn punktetechnisch zu schlagen, hat niemand von ihnen geahnt, dass er nur den vierten Platz belegen wird.

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