Kapitel 8

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Kapitel 8

Jubileiny-Sportkomplex, St. Petersburg, Russland

Sonntag, 13. Jänner 2019

Yuri steigt in den städtischen Linienbus. Dieser ist etwa zur Hälfte besetzt. Da die meisten Passagiere wie er alleine unterwegs sind, herrscht im Bus eine etwas unnatürliche Stille. Das kann allerdings auch daran liegen, dass viele mit ihren Smartphones beschäftigt sind und die Köpfe gesenkt halten. Dadurch nimmt niemand von ihm Notiz.

Er geht bis ganz nach hinten und lässt sich auf einen Platz neben dem Fenster nieder. Den Kopf dreht er zur Seite, wo er dem Schnee beim Fallen zuschaut.

Als Yuri heute das Studentenheim verlassen hat, ist er von der weißen Pracht überrascht worden. In der Nacht muss es stark geschneit haben, denn die Stadt liegt unter einer dreißig Zentimeter dicken Schneeschicht begraben. Dadurch sind viele öffentliche Verkehrsmittel verspätet, darunter auch sein Bus.

Er weiß, dass es ihm nicht gelingen wird, rechtzeitig zur Eishalle zu kommen. Wenn der Bus vor dieser stehen bleiben wird, wird es lange nach halb neun sein. Doch das ist ihm egal. Schließlich ist es Daria, die ihm eine Choreografie zeigen möchte und nicht umgekehrt. Daher wird sie, wenn sie sich eine zweite Chance erhofft, wohl oder übel auf ihn warten müssen, selbst wenn er sich um fast eine halbe Stunde verspäten wird.

Nachdem sie ihm gestern erklärt hat, warum sie seinen geliebten iPod an sich genommen und sich die Lieder darauf angehört hat, hat er sich lange den Kopf darüber zerbrochen, ob er heute zur Eishalle gehen und ihr diese zweite Chance, um welche sie ihn gebeten hat, geben soll. Sie hat es im Grunde genommen nicht verdient. Denn sie hat sein Vertrauen missbraucht und auch irgendwie gegen die nicht abgesprochenen Regeln ihrer eigenen Wette verstoßen. Auch wenn es streng genommen Yakov gewesen ist, der ihm seinen iPod entwendet hat, so hätte Daria ihn niemals annehmen und in seine Privatsphäre eindringen dürfen. Dennoch hat sie es getan, was ihn bis heute ärgert.

Ihre gestrige Entschuldigung hat sich allerdings dermaßen ehrlich angehört, dass Yuri nicht den leisesten Zweifel an Darias Aufrichtigkeit hegt. Sie hat ihm ihre Beweggründe in diesem seltsamen Gespräch, das eher einem Monolog geähnelt hat, offen und ehrlich dargelegt, wodurch er ihr Handeln teilweise nachvollziehen kann.

Wenn es Darias Wunsch ist, eine Choreografie zu erstellen, die nur er laufen kann, so ist ihr Interesse an den Liedern, die er im Moment hört, durchaus verständlich. Sie möchte ihn von ihrer Choreografie überzeugen und dabei kann ihr die Musik, für die sie sich entscheidet, zum Sieg verhelfen. Zwar würde Yuri nicht behaupten, dass er sich durch die Musik, die er hört, definiert. Doch seitdem Otabek ihn verlassen hat, nimmt sie eine wichtige Rolle in seinem Leben ein. Das kann er nicht leugnen. Trotzdem ist das kein gerechtfertigter Grund, sich ungefragt an seinem iPod zu vergreifen.

Yuri lehnt den Kopf gegen die kalte Fensterscheibe. Unverwandt beobachtet er, wie sich Menschen in dicken Winterjacken und tief ins Gesicht gezogenen Mützen einen Weg durch das städtische Schneechaos bahnen. Einige wenige haben einen Schirm aufgespannt, um sich vom herabfallenden Schnee zu schützen. Andere wiederum verzichten darauf. Denn gelegentlich zieht eine starke Windböe auf und wirbelt nicht nur den Schnee auf, sondern zwingt auch jene Menschen, die mit einem Schirm unterwegs sind, diesen mit aller Kraft festzuhalten, damit er ihnen nicht davonfliegt.

Selbst wenn Yuri kein Interesse an Darias Choreografie hätte, ist er mehr oder weniger gezwungen, heute zur Eishalle zu fahren. Er möchte ihr nämlich ihre Wollmütze zurückgeben, die sie ihm gestern ohne Vorwarnung auf den Kopf gesetzt hat. Er solle nicht krank werden, hat sie dabei in einem fast schon belustigt klingenden Tonfall gesagt.

Er schnaubt verärgert. Als ob er, Yuri Plisetsky, krank wird! Er ist in Russland geboren und aufgewachsen, wodurch er die kalten Temperaturen im Winter gewohnt ist. Außerdem ist er kein so zart besaitetes Pflänzchen wie sie. Er braucht keinen Schal, dicke Winterjacke oder billige Wollmütze, um sich warm zu halten, obwohl er zugeben muss, dass ihm gestern am Kai durchaus kalt gewesen ist. Auch wenn er mit Kälte sehr gut umgehen kann, so hat ihn gestern der eisige Wind überrascht. Allerdings wollte er trotz der Kälte nicht zurück in sein schäbiges Studentenheim. Dort hätte ihn nur schlechter deutscher Schlager erwartet, auf welchen er getrost verzichten kann. Daher hat sich Darias Mütze lästigerweise als nützlich erwiesen. Behalten möchte er sie trotzdem nicht.

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