Kapitel 19

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Kapitel 19

Jubileiny-Sportkomplex, St. Petersburg, Russland

Dienstag, 02. April 2019

Seit dem Besuch seines Großvaters anlässlich Yuris neunzehnten Geburtstages ist mittlerweile ein Monat vergangen. In diesem Monat hat sich viel verändert und zugleich ist scheinbar alles beim Alten geblieben. Angetrieben durch die neuen, ermutigenden Worte seines geliebten Großvaters und Darias Vertrauen in seine Fähigkeiten, hat Yuri begonnen, das Training noch ernster zu nehmen, als er es ohnehin schon getan hat. Wenn er in der kommenden Saison ganz oben auf dem Treppchen stehen möchte, muss er besser werden.

Die Konkurrenz schläft nicht und die heutige Jugend schon gar nicht. Es gibt so einige gute Nachwuchstalente im Ausland, aber auch hier in den eigenen Reihen, gegen welche er sich durchsetzen muss. Das dürfte ihm auch gelingen, schließlich hat er mehr Erfahrung als jeder einzelne Läufer unter fünfzehn Jahren zusammengenommen. Aber dann wiederum gibt es auch erfahrene Läufer, denen er sich stellen muss. Jean Jaque Leroy ist einer von ihnen. Aber auch Phichit Chulanont sollte man nicht unterschätzen. Der Thailänder steht JJ und den anderen in nichts nach.

Yuri ist sich all dieser Tatsachen bewusst, weshalb er seit der Abreise seines Großvaters sein Herz und seine Seele ins Training steckt. Er trainiert sechs Mal die Woche und das sowohl morgens als auch abends. Am Abend arbeitet er meistens mit Yakov an seiner Technik. Er wiederholt Sprünge, feilt an seinen Pirouetten und trainiert seine Schnelligkeit in Hinblick auf die Schrittfolge im Kurzprogramm. Diese bringt ihn jedes Mal aufs Neue an seine Grenzen, da sie unheimlich fordernd ist.

Vormittags hingegen arbeitet er mit Daria an der Choreografie und Darbietung. Sie ermahnt ihn, seine Hände zu strecken und seine Schultern zu straffen. Sie macht ihn darauf aufmerksam, wenn er die Schrittfolge zu langsam ausführt oder er dem Takt hinterherhinkt. Auch feilen sie an seiner Haltung und Musikalität.

Der Grund, warum Daria den Vormittag und Yakov den Abend bevorzugt, ist leicht zu erklären. Am Vormittag ist in der Halle kaum etwas los. Die meisten Schüler sind in der Schule und die Erwachsenen an der Uni oder bei der Arbeit. Er und Daria können den Eislaufplatz für sich und seine Kür nutzen, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Insbesondere in den frühen Morgenstunden sind sie sehr lange ganz alleine, wodurch der Platz nur ihnen gehört.

Am Abend muss er sich diesen wiederum mit anderen Sportlern teilen. Daher trainiert er an seiner Technik, denn für diese benötigt er nicht den gesamten Eislaufplatz. Zudem kann Yakov nicht nur ein Auge auf ihn, sondern auch auf seine anderen Schützlinge werfen. Dennoch entgeht ihm kein einziger Fehler, wenn Yuri einen macht. Dann brüllt er quer über den Platz, dass er sich konzentrieren und den Sprung oder die Pirouette gleich weitere fünf oder gar zehn Mal wiederholen soll.

Eine Woche später, nachdem sein Großvater abgereist ist, haben Yuris Muskeln hinsichtlich dieses intensiveren Trainings mit Daria und Yakov gestreikt. Als er wie üblich nach dem Mittagessen mit Daria alleine zu seinem Privatlehrer gefahren ist, sind seine Beine taub geworden und er hat nicht aus dem Bus aussteigen können. Erst nach zwei Stationen ist es ihm gelungen, diesen zu verlassen. Aus Angst, dass seine Beine erneut taub werden würden, hat er an jenem Tag die Strecke zu seinem Lehrer zu Fuß zurückgelegt. Seither steigt er immer eine Station früher aus und marschiert die verbliebenen Meter strammen Schrittes.

Nach einer Weile haben sich seine Muskeln an dieses Trainingspensum gewöhnt. Er ist fitter und kräftiger geworden. Das hat sich insbesondere daran gezeigt, dass seine Sprünge höher geworden sind und er dadurch mehr Zeit in der Luft gewonnen hat, um seine Pirouetten perfekt und vollständig auszuführen. Yakov ist von seiner Entwicklung dermaßen überrascht gewesen, dass es ihm eines Abends beim Training sogar die Sprache verschlagen hat und er nichts bemängeln konnte. Es sind solche kleinen, aber durchaus prägnanten Augenblicke, die Yuri in seinem Training bestärken und ihn zufrieden stimmen.

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