Kapitel 2

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Kapitel 2

Jubileiny-Sportkomplex, St. Petersburg, Russland

Sonntag, 06. Jänner 2019

Er wird es schaffen. Ja. Er wird ihn vergessen. Yuri Plisetsky wird Otabek Altin einfach aus seinem Leben streichen, als hätte es diese Person nie gegeben. Und somit wird auch die Beziehung, die sie über zwei Jahre geführt haben, nicht mehr existieren. Sein Ex-Freund und die vergangenen zweieinhalb Jahre werden schlichtweg aus seinem Gedächtnis gelöscht werden, sodass Yuri dort weitermachen kann, wo er vor knapp drei Jahren zum Pausieren gezwungen wurde.

Aufgrund eines Bänder- sowie Meniskusrisses hat er zwei Saisonen in Folge aussetzen müssen. Er konnte in dieser Zeit noch nicht einmal trainieren, geschweige denn an Meisterschaften teilnehmen. Das hat ihn tagtäglich in den Wahnsinn getrieben. Kaum jemand kann sich vorstellen, durch welch eine Hölle Sportler gehen, wenn sie verletzungsbedingt mehrere Monate ans Bett gefesselt sind und nur dabei zuschauen können, wie andere ihre Chancen nutzen und besser werden. Zeitweise hat Yuri sogar angenommen, nie wieder Eislaufen zu können. Das Gefühl, dass sein Körper sich nie mehr von diesen Verletzungen erholen wird, hat ihn regelmäßig übermannt und große Sorgen bereitet.

Umso glücklicher ist er gewesen, als er letztes Jahr von seinem Arzt und Physiotherapeuten das Okay zum Weitermachen bekommen hat. Schon zu Beginn der Saison wollte er allen beweisen, dass er sich von seinen Verletzungen nicht in die Knie zwingen lässt. Deswegen hat er beschlossen, seine eigene Kür zusammenzustellen. Diese ist seiner Meinung nach sowohl technisch als auch choreografisch sehr anspruchsvoll gewesen. Dass er damit aber weder bei der Jury noch beim Publikum oder seinen Fans punkten konnte, hat ihn mehr als nur verstimmt. Er hat es nicht weiter als zu den nationalen Vorentscheiden geschafft, die er genauso wie viele andere Bewerbe in den Sand gesetzt hat.

Natürlich wäre das nicht passiert, wenn er mehr Zeit in sein Training hätte investieren können, anstatt sich über seinen Verbleib in St. Petersburg sorgen zu müssen. Denn seine ehemalige Choreografin und Ballettlehrerin Lilia Baranovskaya hat ihn und Yakov vollkommen unerwartet aus ihrem Haus geworfen, sodass Yuri von einem Tag auf den anderen kein Dach mehr über den Kopf hatte. Er hat gehofft, sich auf seinen Sportverein verlassen zu können. Dieser hat ihm nämlich versichert, ihm schnellstmöglich eine neue Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Allerdings ist sich Yuri mittlerweile nicht mehr sicher, ob es eine kluge Entscheidung gewesen ist, sich an diese geizigen Versager zu wenden, da sie ihn in einem schäbigen Studentenheim untergebracht haben.

Die Zimmer in dieser heruntergekommenen Bude, in welcher er seither haust, sind winzig und feucht. Im gemeinschaftlichen Badezimmer am Gang müffelt es nach verschwitzten Socken und im Flur nach abgestandenem Fett. Das Mobiliar ist alt und abgenutzt. Die Wände so dünn wie Papier. Yuri hört nicht nur, wenn seine Nachbarn – der eine aus Österreich und der andere aus Deutschland – Frauenbesuch haben oder sich nachts selbst befriedigen, sondern auch ihre schreckliche Musik. Sie glauben nämlich, ihm einen Gefallen zu erweisen, indem sie ihn täglich mit ihrem heißgeliebten Schlager bis spät in die Nacht beschallen.

Doch das tun sie ganz und gar nicht, was er sie auch jedes Mal aufs Neue wissen lässt. Dann hämmert er nämlich mit geballter Faust gegen die Wand und brüllt sie an, den ohrenbetäubenden Lärm leiser zu stellen. Bisher hat sich diese Methode als ebenso nutzlos erwiesen wie das Melden dieser germanischen Barbaren bei der Heimleitungen. Seine Nachbarn klopfen nur unbeeindruckt zurück und meinen, dass sie sich ohne Schlager nicht aufs Lernen konzentrieren können. Dann drehen sie die Musik noch lauter und hören bis spät in die Nacht Cheri Cheri Lady.

Beim Gedanken an seine momentanen Wohnungsverhältnisse schnaubt Yuri wütend. Irgendwann wird er aus diesem Drecksloch verschwinden und dann nie wieder in seinem Leben Schlager hören. Wie kann man so eine schreckliche Musik nur toll finden? Haben sie noch nie etwas von Punk Rock oder Grunge gehört? Vermutlich nicht, da sie ansonsten nicht Brother Louie oder Yes Sir, I Can Boogie auf und ab spielen würden.

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