Kapitel 21

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Kapitel 21

St. Petersburg, Russland

Donnerstag, 04. April 2019

Yuri kann sich partout nicht erklären, wie es Daria gelungen ist, ihn zu diesem Abendessen mit Viktor und Katsudon zu überreden. Er möchte die beiden nicht sehen und das weder in der Eishalle, noch in deren Eisshow oder gar bei einem gemeinsamen Abendessen wie diesem hier.

Was hat sich Daria nur dabei gedacht, Viktors Einladung zum Abendessen anzunehmen?! Und warum musste er sie begleiten?! Yuri hat definitiv besseres zu tun, als gemeinsam mit dem alten Sack und Katsudon in einem überteuerten Lokal zu sitzen und sich von ihnen erzählen zu lassen, wie es dazu gekommen ist, dass sie eine eigene Show haben.

Er will lieber mit Daria an seiner Choreografie arbeiten und trainieren. Er will Musik hören. Er möchte alte Bilder von Otabek und sich löschen, auch wenn er genau weiß, dass er es auch diesen Abend nicht übers Herz bringen wird. Er hat es schon oft versucht. Irgendwann bei zwanzig hat er aufgehört mitzuzählen. Doch er schafft es einfach nicht. Er hört immerzu Darias Worte, die in seinen Ohren klingen und meinen, dass man Erinnerungen im Affekt nicht zerstören soll. So schmerzhaft sie in einem Moment auch erscheinen, umso dankbarer ist man schon im nächsten, sie gemacht zu haben.

Yuri weiß bis heute nicht, ob er dankbar ist, die Erfahrung einer Liebesbeziehung mit Otabek gemacht zu haben oder nicht. Diese Beziehung hat ihn sehr verletzt und ist in seinen Augen nur mit Schmerz, Wut und Einsamkeit verbunden.

Aber ist es das nicht auch bei Daria? Sie muss mit ihrem Verlobten den Tod in Zusammenhang bringen. Immer, wenn sie an Matthias denkt oder seinen Namen hört, muss sie denselben Schmerz, dieselbe Wut und dieselbe Einsamkeit wie er empfinden. Sie muss traurig, mitgenommen und emotional angeschlagen sein. Wie kann sie also ihren Verlobten und ihre gemeinsamen Erinnerungen in Ehren halten, wenn sie immerzu daran erinnert wird, dass alles vorbei ist und sie das Leben von damals nicht mehr führt und auch niemals wieder führen kann?

Yuri schaut zur Seite und mustert Darias Profil. Sie wirkt ruhig und entspannt. Das gemeinsame Essen mit Viktor und Katsudon scheint ihr sehr gefallen zu haben. Sie hat sich hauptsächlich mit Viktor unterhalten und das über alles Mögliche. Sie haben darüber geredet, wie es dazu gekommen ist, dass sie jetzt in St. Petersburg ist und warum er, Yuri Plisetsky, sie als Trainerin akzeptiert hat. Sie haben auch kurz über das Eislaufen und ihre jeweiligen Erfolge in den vergangenen Saisonen gesprochen. Dabei ist auch Matthias' Name oft gefallen.

Jedes Mal, wenn Yuri diesen Namen gehört hat, hat er auf Daria geschaut und sich gefragt, wie sie es aushält, über ihn zu reden. Sie und Viktor sind schon seit einigen Jahren miteinander befreundet. So viel weiß er mittlerweile. Sie haben sich auf diversen Meisterschaften und anschließenden After-Show-Veranstaltungen näher kennengelernt. Was sie damals miteinander verbunden hat, ist die Tatsache gewesen, dass Daria Russisch gesprochen hat und sich somit mit Viktor unterhalten konnte. Doch soweit Yuri das richtig verstanden hat, sind auch Chris und Matthias gute Freunde von Viktor gewesen, wodurch sie oft zu viert gefeiert und ihre Siege miteinander geteilt haben.

Yuri kann sich kaum ausmalen, wie es sich anfühlen muss, den Namen des toten Verlobten immer wieder hören zu müssen. Wenn jemand nämlich Otabek auch nur ein einziges Mal namentlich erwähnen würde, würde er wütend werden und gehen. Denn er will nicht über diesen kasachischen Idioten reden.

Daria ist aber anders. Es scheint, als könnte sie stundenlang über Matthias sprechen, ohne je richtig traurig oder wütend zu werden. Sie ist die Ruhe selbst und lächelt sogar, wenn sie eine Anekdote aus ihrem und Matthias' Leben erzählt! Wie macht sie das nur?

„Wenn du mich noch länger so anschaust, dann wirst du früher oder später in jemanden reinlaufen", hört er sie sagen. Sie dreht sich zu ihm und schenkt ihm ein sanftes Lächeln. Dieses Lächeln und ihre Worte lassen ihn ein wenig verlegen werden, weshalb er sich von ihr abwendet und auf den Boden blickt. Seine Hände hat er tief in den Jackentaschen vergraben.

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