Kapitel 10

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Kapitel 10

St. Petersburg, Russland

Samstag, 19. Jänner 2019

Auf dem Rücken liegend schaut Yuri Plisetsky an die Zimmerdecke. Es ist eine ganz gewöhnliche Decke, wie es sie überall gibt. Ursprünglich ist sie weiß oder cremefarben gestrichen gewesen. Aber dadurch, dass sie jahrelang Staub, Schmutz und feierwütigen Studenten ausgesetzt gewesen ist, erinnert ihre Farbe mittlerweile an verdorbene Milch. Eine Lampe ist nicht montiert worden. Nur ein loses Kabel mit einer veralteten Glühbirne hängt von der Decke. Doch sonst ist sie schmucklos und ohne jede Besonderheit. Sie enthält weder eine Forderung noch eine Botschaft. Sie erfüllt lediglich wacker und ohne einen weiteren Anspruch ihre tragende Rolle.

Die Wände des Zimmers sind mit einer alten, vergilbten Tapete verklebt. Vor vielen Jahren hatte sie irgendein feines Muster, doch dieses ist verblichen und bei dem schwachen Licht, das durch das einzige Fenster im Zimmer dringt, unmöglich zu erkennen.

Abgesehen vom Bett, in welchem er liegt, gibt es im Zimmer kein besonderes Mobiliar. Eine wackelige Kommode, ein unbequemer Holzstuhl und ein schiefer Schreibtisch befinden sich im Zimmer. An der Wand hängen weder Bilder noch eine Uhr oder ein Spiegel. Lediglich ein alter, dreckiger Teppich liegt auf dem ungepflegten Holzboden.

Yuri fragt sich jeden Tag aufs Neue, warum er eigentlich in dieser Bruchbude haust. Wie kann er den Staub, Schmutz und Lärm aus den Zimmern seiner Nachbarn täglich ertragen? Wie kann er mit dieser verdorbenen, milchigen Decke, der alten, in die Jahre gekommenen Tapete und der Tür mit dem abgewetzten Messinggriff überhaupt noch leben? Ein normaler Mensch mit normalen Ansprüchen und einem normalen Lebensstandard wäre aus diesem verwahrlosten, dreckigen Zimmer schon längst geflohen.

Aber nicht Yuri, denn er lebt noch immer hier. Ist er also nicht normal?

Nein. Er ist normal. Er ist ein normaler Junge mit einem ungewöhnlichen Hobby und einer noch ungewöhnlicheren Karriere. Aber er ist normal. Normal und unglaublich verzweifelt, weshalb er sich all das hier gefallen lässt. Das Studentenheim. Dieses Zimmer. Die schreckliche Musik seiner Nachbarn. Er hat keine andere Wahl, als hier zu bleiben und all dies tagtäglich über sich ergehen zu lassen, denn wo soll er sonst wohnen?

Bei Daria vielleicht, schießt es ihm unversehens durch den Kopf.

Er dreht sich zur Seite. Neben ihm auf dem Bett liegt seine sibirische Langhaarkatze Potya. Sie schläft seelenruhig. Sofern man nicht genau hinschaut, könnte man meinen, dass sie tot ist. Aber das sanfte Heben und Senken ihrer Brust verrät ihm, dass sie lediglich schläft.

„Ich habe eine Wahl", murmelt er leise an sich selbst gerichtet. Er könnte Darias lächerliches Angebot annehmen und mit ihr zusammen in eine schöne, große Wohnung ziehen. Dann könnte er dieses Drecksloch und seine barbarischen Nachbarn endlich hinter sich lassen und sich voll und ganz auf seine Karriere konzentrieren. Er würde keine Bauchschmerzen mehr haben, wenn er an seine lausige Bleibe denkt und sich auch nicht dafür fürchten, diese zu betreten. Stattdessen könnte er sich jeden Tag mit warmem Wasser in einem sauberen Badezimmer duschen, wo man hinter sich die Tür absperren kann. Er würde wieder zu seiner inneren Ruhe finden und sich abends vor dem Schlafengehen nicht voller Sorge fragen müssen, ob ihn jemand mitten in der Nacht mit dröhnender Musik belästigen wird.

Im Gegensatz zu seinen Nachbarn wirkt Daria nämlich nicht wie ein sadistischer Mensch, der ihn bis spät in die Nacht mit deutschem Schlager beschallen oder ihm anderweitig in den Ohren liegen würde. Wenn dem so wäre, dann wäre ihm das in der vergangenen Woche vor, während oder nach dem Training sicherlich aufgefallen. Doch das ist es nicht.

Daria hat sich während jeder Trainingseinheit vollkommen normal verhalten und ihn respektvoll behandelt. Zwar ist sie sehr streng und unglaublich genau gewesen, doch zugleich ist sie kein ungehobelter Sklaventreiber wie Yakov. Wenn er einen Fehler macht, weist sie ihn professionell darauf hin und bittet ihn höflich, die fehlerhafte Passage zu wiederholen oder an seiner Technik zu arbeiten, anstatt herrisch zu verlangen, dass er verdammt noch mal seinen Verstand nutzen und sich endlich konzentrieren soll. Das ist es nämlich, was Yakov ihm beinahe täglich an den Kopf wirft.

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