Kapitel 29

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Kapitel 29

Grenoble, Frankreich

Freitag, 01.November 2019

„Ich hole ihn ab."

Mit diesen Worten hat sich Daria von Yakov verabschiedet, nachdem Yuri angerufen und darum gebeten hat, abgeholt zu werden. Bei strömendem Herbstregen möchte er trotz seines Versehens, ihre Spieluhr auf den Boden geworfen und dadurch kaputt gemacht zu haben, nicht durch die verwinkelten Gassen von Grenobles Innenstadt wandern.

Daria ist sich im Klaren, dass sich ihr Schützling ganz bewusst bei Yakov und nicht bei ihr gemeldet hat. Dieser soll ihn abholen und nicht sie. Doch nun ist sie diejenige, die mit einem großen Regenschirm in der einen und Yuris Winterjacke in der anderen Hand durch Grenoble spaziert und dabei einen Blick in jede noch so schmale und unscheinbar wirkende Gasse wirft, welche sie passiert.

Manche dieser Gassen erkennt sie wieder. Denn sie und Yakov haben den ganzen Nachmittag lang nach Yuri gesucht, als dieser unversehens aus dem Hotelzimmer gestürmt ist. Zunächst haben sie angenommen, dass er sich irgendwo im Hotel versteckt. Daher haben sie dieses nach ihm abgesucht, bis eine höfliche Frau an der Rezeption sie darüber informiert hat, dass sie Yuri aus dem Hotel stürmen gesehen habe. Er sei ihr nicht nur aufgefallen, weil er Anfang November keine Jacke getragen, sondern auch so gewirkt habe, als würde er neben sich stehen.

Daria und Yakov sind anschließend sämtliche Straßen und kleinere Gassen in der Nähe des Hotels abgegangen in der Hoffnung, Yuri alsbald zu finden. Sie ist sogar bis in die Innenstadt gelaufen, um nach Yuri zu suchen, während sich Yakov in die Eishalle, wo bereits die nächsten Bewerbe ausgetragen wurden, begeben hat. Sie haben auch dutzende Male versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Vergebens. Denn er hat kein einziges Mal abgehoben.

Vor lauter Verzweiflung hat sich Daria sogar an Otabek gewandt. Als sie ins Hotel zurückgekehrt ist und ihn in der Eingangshalle getroffen hat, hat sie sich sogleich bei ihm erkundigt, ob er denn etwas von Yuri gehört habe. Er hat verneint und mit gerunzelter Stirn wissen wollen, was denn geschehen sei. Daria hat ihm nicht verraten, was genau passiert ist. Sie hat nur gemeint, dass er nach einem Streit mit Yakov das Hotel verlassen habe und sich seither nicht gemeldet hat.

Zwar hat Otabek angeboten, ihnen bei der Suche nach Yuri zu helfen, jedoch hat Daria freundlich abgelehnt und ihm erklärt, dass es womöglich nicht klug wäre, wenn ausgerechnet er mit Yuri spricht. Ihr Schützling würde dem Kasachen zwar nicht mehr den Kopf abreißen wollen, aber seine Wut hinsichtlich der plötzlichen Trennung sei noch immer nicht vollständig verraucht.

Obwohl der junge Sportler sehr schweigsam gewesen ist, hatte Daria das Gefühl, dass er ihre Begründung nicht nur gehört, sondern auch tatsächlich verstanden hat. Denn er hat sich ihr nicht weiter aufgedrängt, sondern gut zugesprochen und gemeint, dass Yakov und sie Yuri schon finden werden. Früher oder später wird er wieder ins Hotel zurückkommen. So wütend er auch auf Yakov sein mag, so kehrt Yuri stets zu jenen Menschen zurück, die ihm am Herzen liegen – und Yakov ist ihm wichtig, auch wenn er es nicht oft zeigt oder gar sagt.

Mit einem undurchschaubaren Lächeln hat sich Daria freundlich bei ihm bedankt und ist zurück ins Hotelzimmer gegangen. Dort hat sie gemeinsam mit Yakov auf ein Wunder gehofft. Die meiste Zeit hat sie auf die kaputte Spieluhr auf dem Nachtkästchen geblickt und sich gefragt, wie ein dermaßen kleiner Gegenstand so viel Kummer hervorrufen kann. Es ist zwar eine besondere Spieluhr, weil Matthias sie ihr vor vielen Jahren geschenkt hat, aber letzten Endes ist und bleibt es nur eine gewöhnliche, wenn nicht sogar billige Spieluhr, die mit einem Menschenleben nicht aufzuwiegen ist. Viel lieber hätte sie Yuri zurück, als diese Spieluhr noch einmal zu hören.

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