Kapitel 31: Nachricht

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Garrett nimmt seinen Platz vor meiner Tür ein und lässt mich damit allein. Lana, Mia und Christy fragen mich zwar ein Mal, ob alles in Ordnung sei, aber nachdem ich den Kopf schüttle und meinen Blick abwende, entscheiden sich alle drei spontan dazu, ganz dringend Dorian in der Küche besuchen zu wollen. Ich bin sehr dankbar, allein zu sein, und lasse mich auf das Bett sinken. Ich spüre, dass mir eigentlich Tränen in die Augen steigen wollen, aber sie es irgendwie nicht schaffen. Ich seufze und lege das Buch neben mir ab. Gedankenverloren streiche ich mit meiner Hand über den Einband und umfahre mit meinem Zeigefinger die Konturen des Titels. Es ist keine schöne Ausgabe und schon sehr abgenutzt. Nicht so, dass es schlecht behandelt worden wäre, sondern so, dass man sieht, dass es viel gelesen wurde, was sie irgendwie doch schön macht. Ich lächle leicht. Und dann fällt mir etwas auf. Etwas ist darin. Vielleicht ein Lesezeichen? Schnell nehme ich das dünne Buch hoch und schlage auf der Seite auf, in der ich das Stück Papier sehe. Es ist der Anfang des Amor und Psyche Mythos. Der Brunnen. Ein Brief. Ich drehe ihn hektisch um und tatsächlich. Eine unverkennbare Handschrift. Ich merke, wie ich unwillkürlich heftiger atme. Ein Wort von ihm. Ich reiße den Brief fieberhaft auf und klappe die vier Seiten auseinander.

Meine geliebte Georgie,

Jetzt steigen mir doch Tränen in die Augen. Aber ich blinzle sie weg. Ich muss die Worte lesen können.

ich befürchte du wirst diesen Brief verbrennen müssen, sobald du ihn gelesen hast. So sehr ich hoffen möchte, dass du ihn gerne behalten würdest. Ich habe etwas getan, dass ich mir nicht verzeihen kann. Entgegen meines guten Gewissens habe ich mich in dich verliebt. Nicht, dass ich das bereuen würde, ganz im Gegenteil. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, du wärst nicht mit Abstand das Beste, das mir je in meinem Leben widerfahren ist. Nichtsdestotrotz quält mich ein enormes Schuldbewusstsein und es gibt einiges, was du endlich erfahren solltest. Denn du hast ein Recht, es zu erfahren. Ich wusste nur bisher nie, wie ich es dir sagen sollte, aber ich hoffe, dass ich zumindest auf diesem Wege endlich die richtigen Worte finde. Es hat lange genug gebraucht, bis ich überhaupt entschieden habe, dass ich ein egoistischer Idiot war und es besser für dich ist, wenn du die ganze Wahrheit weißt.

Ich springe auf und kaue an meiner Unterlippe. Endlich. Dann lese ich weiter.

Wie ich dich kenne, hast du bestimmt inzwischen schon bemerkt, dass es sich bei Henry nicht um mich handelt. Ich bin nicht mehr und nicht weniger als der Mann, der mit dir stundenlang Bücher gelesen und philosophiert, gescherzt und gelegentlich auch diskutiert hat. Der Mann, der dir bei seinem ersten Treffen aus dem bloßen Gefühl dich richtig kennen zu wollen heraus seinen echten Namen genannt hat. Daniel. Ich hatte kein Recht dazu, dir so nahe zu kommen, aber ich muss gestehen: meine Bemühungen, es nicht zu tun, waren absolut erbärmlich. Diese Auswahl war nicht für mich bestimmt, sondern für meinen Bruder. Meinen Zwilling. Rein theoretisch bin ich der ältere, aber niemand hat erwartet, dass ich überhaupt so alt werde, wie ich es jetzt bin. Du weißt von meiner Konstitution und es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass sie immer noch wesentlich schlimmer ist, als ich es dich glauben ließ, auch wenn ich inzwischen zum Glück als mehr oder weniger stabil gelte. Den Angriff zu unserer Geburt hatte es tatsächlich gegeben und er war tatsächlich nur auf uns gerichtet. Das Königshaus war zu dieser Zeit unglaublich verletzlich. Der Tod des nächsten Thronfolgers wäre ein klares Zeichen gewesen und hätte vermutlich zusätzlich einen großen Streit um die Erbfolge ausgelöst. Es gibt verschiedene Leute in der Erbfolge, die es auf den Thron abgesehen haben.

Ich muss sofort an seinen Onkel, Markus' Vater, denken. Er ist mir noch nie sonderlich sympathisch gewesen.

Um all diese Probleme aus der Welt zu schaffen, haben meine Eltern den Entschluss gefasst, mich und Henry zu verstecken. So war auch Lillian geschützt, da sie erst zum Ziel der Angreifer geworden wäre, sobald wir von der Erbfolge ausgeschlossen wären. Und einen Thronfolger, den niemand kennt, kann man nicht umbringen. Da von Anfang an klar war, dass ich dem anstrengenden Amt des Herrschers, mit all seinen Pflichten, Gefahren ect., nicht gewachsen war, wenn ich denn überhaupt überleben sollte, wurde am Tag unserer Geburt entschieden, dass Henry der Thronfolger sein sollte. Er ist zum Teil bei mir in dem Haus, von dem ich dir erzählt habe, und zum Teil unter den strengsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann, im Palast aufgewachsen. Ich sollte eigentlich zu meiner eigenen Sicherheit niemals mein Versteck verlassen. Ich sehe genauso aus wie er. Wo sollte ich schon leben, wenn er in die Öffentlichkeit geführt wird? Und mich auch als Prinzen zu offenbaren, wäre wie gesagt auch keine Option. Die Erbfolge, der Stress, du verstehst. Henry sollte nun also, wo er das richtige Alter erreicht hat, endlich seine Selection abhalten und bereit für sein Amt als König sein. Doch genau zu dieser Zeit tauchten erneut die Angreifer von damals auf. Zumindest vermutet Henry, dass es die gleichen sind, da ihre Muster sehr denen von damals ähneln. Wir wissen nicht, wer es ist, oder was sie wollen. Sie ergeben keinen Sinn. Entgegen den Wünschen unserer Eltern wollte Henry die Selection verschieben und sich für unser aller Sicherheit im Geheimen auf die Suche nach ihrem Ursprung machen. Er verfügt über wahnwitzige militärische Kenntnisse und ist der vermutlich beste Stratege und Kämpfer, den sich unsere Wachen und unsere Armee wünschen könnten. Ich wusste: wenn jemand den Ursprung dieses Treibens finden konnte, wäre er es. Also nutzte ich die Gelegenheit einmal in meinem Leben aus meinem Versteck zu gelangen und schlug vor, seinen Platz einzunehmen, um ihm Zeit zu verschaffen. Vater und Mutter waren erwarteter Weise strikt dagegen, aber stimmten schließlich in Anbetracht der Dringlichkeit der Lage zu. Und nun ist Henry scheinbar ganz nah an der Lösung des Rätsels und zurückgekehrt. Ich muss sagen: ich war nie eifersüchtig auf ihn. Ich halte sehr viel von Henry, er ist mein Bruder, ich liebe ihn und er war immer gut zu mir und einer der wenigen Menschen, die sich tatsächlich ernsthaft für mich interessierten und für mich da waren. Ich glaube nicht, dass der Posten des Königs mir liegen würde und mir läge auch persönlich nicht viel daran. Und mit meinem Schicksal, immer im Schatten zu leben, habe ich mich schon vor langer Zeit mehr oder weniger abgefunden. Es gibt nur eine einzige Sache, die für ihn bestimmt ist, die ich mir wünschen würde: und das bist du, Georgie. Ich weiß, du bist kein Objekt, auch wenn du es vielleicht laut diesen dämlichen Regeln der Selection zu sein scheinst. Du gehörst niemandem und entscheidest selbst, was du tust und lässt. Aber ich weiß, dass diese ganze Auswahl ganz anders ausgesehen hätte, wenn ich nicht so stark eingegriffen hätte. Und was das allerschlimmste ist: ich weiß, dass du ihn verdienst und nicht mich - eine Person, mit der du niemals leben könntest, mit der du keine Zukunft hast. Je näher wir uns kamen und je mehr ich dich geliebt habe und je mehr du meine Gefühle erwidert hast, umso deutlicher habe ich auch gespürt, dass ich nicht der Mann bin, der an dieser Stelle hätte stehen sollen. Dieses Gefühl wurde noch nagender, nachdem mir klar wurde, dass du nicht nur für ihn die beste Wahl wärst, sondern auch für das Königreich. Und es brach mir das Herz, als er mir sagte, er würde dich zu seiner Frau machen wollen. Ich hätte den Kontakt zu dir abbrechen oder minimieren sollen, als ich gemerkt habe, wie perfekt du für ihn bist. Ich hätte dir die Chance geben sollen, ihn an meiner Stelle kennenzulernen und ihm, dich kennenzulernen. Ich flehe dich an, wenn nur um meinetwillen: gib ihm die Chance, die er verdient hat. Und ziehe zumindest in Betracht, Königin Illéas zu werden. Jede einzelne Sekunde, die ich mit dir verbringen durfte, war für mich ein kostbares Geschenk und ich werde sie alle auf ewig in Ehren halten und an ihnen zehren. Und ich hoffe, dir wird es genauso gehen. Ich hoffe, dass ich dir irgendetwas mitgeben konnte, was du in ein neues Leben mitnehmen kannst.

Selection- Der versteckte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt