Kapitel 29: Theorien

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„Georgie!", höre ich Henrys Stimme. „Bitte warte kurz!" Garrett bleibt neben mir stehen. Ich kann augenblicklich sehen, wie er in den Alarmbereitschaftsmodus wechselt. Aber zum Glück ist er so gut darin, das zu verbergen, dass ich mir keine Sorgen machen müsste, dass Henry es vielleicht bemerken könnte. Es ist nur, weil ich Garrett so gut kenne. „Darf ich kurz mit ihr allein sprechen?", fragt Henry Garrett. Garrett wirft mir einen fragenden Blick zu. Wir sind kurz vorm Esszimmer. Es könnte jeden Moment jemand anderes vorbei kommen, also kann er eh nicht so lange mit mir sprechen. Ich nicke Garrett lächelnd zu. Er nickt zurück und geht weg. Sobald er um die Ecke ist, wendet sich Henry an mich. „Ist alles in Ordnung mit dir?", möchte er wissen. Sein Ton ist sanft und besorgt. „Ich hatte die ganze letzte Woche das Gefühl, dass du mir aus dem Weg gehst." Das liegt daran, dass du nicht der Mann bist, den ich liebe, sondern jemand, den ich nicht einordnen kann, der ihm aber wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Und ich finde das ganze beunruhigend und gruselig und jedes Mal, wenn ich dich ansehe, fühle ich ein Stechen in meiner Brust, weil ich nicht weiß, wo er ist, und ich mir Sorgen um ihn mache, aber nur du hier bist und ich nicht einmal sicher weiß, wer du bist. „Nein. Es ist... Es ist alles gut. Der letzte Angriff war nur sehr viel für mich. Recht... traumatisierend. Ein Mädchen ist sogar ums Leben gekommen", erkläre ich, was sogar nur halb gelogen ist. „Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich, um mit meinen eigenen Gedanken klar zu kommen. Tut mir leid, wenn du das Gefühl hattest, ich würde dich meiden. Es lag nicht an dir. Du hast nichts falsch gemacht." Du bist einfach nur der Falsche. Er nimmt meine Hand zärtlich in seine. Etwas in mir ist überrascht und etwas zieht sich zusammen, aber ich versuche mir beides nicht anmerken zu lassen. Er tritt etwas näher, aber noch nicht so nah, dass es mir unangenehm wäre. Er sieht hinunter auf unsere Hände und für den Bruchteil einer Sekunde erinnert er mich so sehr an Daniel, dass ich fast vergessen könnte, wer er wirklich ist. „Gut. Ich muss gestehen, ich habe mir schon etwas Sorgen gemacht. Das mit uns, das..." Er sieht mir wieder ins Gesicht. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen und seine Stirn ist in Falten gelegt wie bei einem Welpen. Er muss wirklich aufhören mich so sehr an Daniel zu erinnern. „Das mit uns ist etwas besonderes. Und ich will es nicht verlieren." Er legt seine zweite Hand an meine Wange und streicht mit seinem Daumen darüber. Was, wenn er mich küssen will? Er sieht Daniel so unglaublich ähnlich und mein Wunsch, dass er es wäre und mich jetzt vorzubeugen, um ihn zu spüren, ist unglaublich stark. Aber der Wunsch, ihm ins Gesicht zu schlagen, wenn er es tun sollte, ist mindestens genau so stark. Zu meiner Verwunderung macht er allerdings keine Anstalten irgendetwas zu versuchen. Er lächelt einfach liebevoll. „Wenn du Zeit brauchst, werde ich deine Grenzen respektieren. Aber du sollst wissen, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du reden möchtest. Die Türen meines Büros sind immer für dich offen." Das war... erstaunlich respektvoll und bedacht? Nur weil er der echte Prinz ist, muss er ja nicht unbedingt ein schlechter Mensch sein. Und er versucht ja nicht anders als Daniel zu wirken, dann wäre es komisch, wenn er plötzlich so distanziert zu mir gewesen wäre. Wir hören Schritte am Ende des Ganges und drehen beide gleichzeitig unsere Köpfe in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Er sieht mich noch einmal an, lächelt und nickt ermutigend und dann wahrt er wieder den schicklichen Abstand. Lillian biegt um die Ecke. Die letzte verwirrende Person, die ich gerade sehen möchte. Und dann fallen mir ihre Worte von dem Gespräch mit Markus wieder ein: „Ich würde eher sterben als Henry auf dem Thron zu sehen und du auch." Hat sich dieses ganze Gespräch vielleicht gar nicht um Daniel gedreht... sondern um diesen Henry? Und wenn ja, wieso? „Hallo Georgie", begrüßt sie mich und in ihrem Mund klingt mein Name fast schon wie ein Aufatmen. Wenn sie nur wüsste, wie wenig ich momentan mit ihr umzugehen weiß. „Hallo Bruderherz." „Hallo Schwesternherz", erwidert Henry mit charmantem Grinsen. Lillian wendet sich wieder an mich. „Das mit dem Angriff tut mir unglaublich leid", meint sie. „Es tut mir generell leid... was du hier alles miterleben musst." In ihren Augen ist tatsächlich eine große Sorge zu sehen. „Und das mit Lady Suzanna tut mir auch unglaublich leid." Ihre Hand ballt sich zu einer Faust zusammen. Sie ist nicht einfach nur traurig, sie ist in erster Linie... wütend? Moment. In dem Gespräch mit Markus hatten sie auch Andeutungen gemacht, dass die Angriffe von ihnen kommen könnten. Ist Suzanna durch sie gestorben? Oder durch Markus ohne ihr Einverständnis? Sie war damals nicht wirklich zufrieden mit dem Einsetzen der Angriffe, richtig? „Wir haben schon länger nicht mehr miteinander gesprochen. Ich wollte schon die ganze Zeit über einmal auf dich zugehen. Ich wusste nur nicht richtig, wie..." Lillian sieht mich so verzeihend und eindringlich an, als würde Henrys Anwesenheit komplett aus ihrem Geist verschwinden. Plötzlich fühle ich wieder diese alte Vertrautheit zu ihr. Aber ich sollte ihr nicht mehr vertrauen. Ich weiß nichts über sie. „Ich habe mich auch gerade ein bisschen mit ihr ausgesprochen", wirft Henry ein. Plötzlich ist Lillian sich seiner Anwesenheit wieder sehr bewusst. „Es ist für uns alle schwierig. Aber ich bin froh, dass wir für einander da sein können und zusammen sind." Er wirft mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu und ich nicke. Lillian lächelt Henry an, aber hinter ihren Augen sieht sie einfach nur traurig aus. Sie nimmt meine Hände in ihre und sieht mir tief in die Augen. „Das hier wird alles schon bald vorbei sein. Ich verspreche es dir", meint sie. In ihrer Stimme schwingt ein Ernst mit, den ich nur erkennen kann, weil ich in dem Gespräch zwischen ihr und Markus das Feuer, das in ihr versteckt ist, gesehen hatte. Sie lässt mich los und geht zum Esszimmer. Henry steckt beide Hände in die Hosentaschen und folgt ihr. Im Gehen zwinkert er mir zu. Hoffentlich will er mir nicht schon bald einen Antrag machen. Ich kenne ihn doch gar nicht! Und ich muss weiter investigieren. Sobald die beiden etwas weiter weg sind, stoße ich einen tiefen Seufzer aus und mache mich dann ebenfalls auf den Weg zum Esszimmer. Vor der Tür wartet Garrett bereits mit den anderen Wachen. Sein Gesicht ist ernst. Ich lächle ihn beruhigend an und drücke im Vorbeigehen einmal kurz seine Hand, damit er weiß, dass alles gut ist. Die anderen Mädchen sitzen bereits an der riesigen Tafel. So leer sieht sie irgendwie sehr traurig aus. Ich setze mich neben Sydney, die mich fröhlich begrüßt. Chloe und Renée sitzen uns gegenüber. Chloe lächelt mich an. Sie sieht müde aus. Kein Wunder. Sie war schon immer etwas sensibel, da ist es erstaunlich, wie gut sie mit all dem hier klar kommt. Sie sieht äußerlich ein bisschen so aus, wie wir uns alle innerlich fühlen müssen. „Wie geht es dir?", frage ich sie über den Tisch hinweg. Sie zuckt mit den Schultern. „Den Umständen entsprechend. Ich komme klar." Sie tauscht einen Blick mit Sydney aus. Die kurz weniger cool und wesentlich schmerzerfüllter wirkt. Dann sieht sie wieder mich an, mit dem gleichen starken Lächeln wie vorher. „Ich bin froh euch zu haben." „Zieh'n wir es durch", meint Renée selbstbewusst wie eh und je. Sie sticht in unserer Gruppe ein bisschen hervor, aber selbst ihre Fassade scheint ein bisschen zu bröckeln, also meine ich zu ihr: „Genau. Bis zum Ende. Eine von uns wird Königin von Illéa werden. Wir sollten sie und einander so gut unterstützen, wie wir können. Die Entscheidung liegt allein bei Henry und wie Königin Clarice vor langer Zeit einmal sagte..." Ich sehe ans Ende der Tafel, wo sie sich gerade zu ihrem Platz begibt. „Wir machen hier alle das selbe durch." Sehe ich da etwa etwas Empathie in Renées Blick? Zu meiner Überraschung setzt sich Königin Clarice nicht hin, sondern spricht heute an König Lionels Stelle: „Meine lieben Mädchen. Der König wird sich heute leider etwas verspäten, deshalb werde ich für euch heute ausnahmsweise das Essen eröffnen, damit ihr nicht verhungert." Wir alle mühen uns ein kleines Schmunzeln ab, aber ich finde das seltsam. Sonst war König Lionel immer zu Beginn des Essens da, egal welche Pflichten er hatte. Hoffentlich hat das nichts mit den Angriffen zu tun. Noch einen könnte ich momentan kaum verkraften. Wir kriegen die Vorsuppe aufgetischt und Renée beginnt ein belangloses Gespräch mit Prinz Henry. „Wirklich alles in Ordnung bei dir?", flüstert Sydney mir zu. „Wir alle sind absolut fertig, aber du... du wirkst irgendwie anders als wir." „Ich überlege, was wir beim Blog machen könnten", versuche ich mich heraus zu reden. „Wir haben schön länger nichts mehr gepostet. Ich denke, es wäre schön, wenn wir alle etwas zusammen machen könnten, wo wir nur noch zu viert sind." „Versuch nicht abzulenken, Georgie", Sydney sieht analysierend zur Königin und den Geschwistern. „Ich kenne dich besser als das. Suzanna ist beim Angriff gestorben und beim letzten Bericht haben wir alle gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, als gesagt wurde, ihr wäre ein schrecklicher Unfall passiert. Bei der Gedenkfeier ein paar Tage darauf wurde mir richtig übel von all dem hier. Uns allen, denke ich. Aber du bist noch einmal anders als wir. Das warst du schon immer. Du hast die ganze Zeit ausgesehen, als würden all deine Gehirnzellen auf ein Ziel hin arbeiten. Du hast eine Theorie über etwas, oder?" Meinen Eltern hatte ich auch in meiner letzten E-Mail unzählige Lügen erzählen müssen. Ich war noch nie in meinen Leben so unehrlich zu ihnen gewesen. Aber es ging nicht anders. Ich puste über meinem Löffel und nehme einen Happen von der Suppe. Ich bin inzwischen abgebrüht genug, dass ich in so einer Situation noch essen kann, wow. Sydney hat natürlich recht. Aber ich will sie da nicht auch noch mit rein ziehen. Es stecken schon genug Leute, die mir etwas bedeuten, darin. Als ich nicht antworte, sieht Sydney Henry an und flüstert weiter: „Findest du nicht auch, dass sich Henry erstaunlich gelassen während der ganzen Situation verhält?", meint sie. „Beim letzten Mal und auch immer sonst, wenn es Probleme gab, war er viel aufgewühlter. Er kann nicht so schnell so abgebrüht geworden sein, oder?" Ich sehe ihn an und spüre, wie Tränen hinter meinen Augen beginnen zu brennen. Fokussiere dich, Georgie. Es klang nicht so, als hätte sie eine Ahnung von dem, was hier vor sich geht. Ich zucke mit den Schultern. „Jeder geht anders damit um." „Hat er irgendetwas zu dir gesagt? Du stehst ihm bekanntlich am Nächsten, auch wenn er sich langsam auch uns gegenüber etwas mehr öffnet." Er ist ja auch wortwörtlich nicht mehr derselbe. „Nein, nichts. Wir haben die ganze letzte Woche nicht viel miteinander gesprochen." „Oh. Habt ihr euch gestritten?" „Nein. Ich brauchte einfach ein bisschen Abstand von... allem." Sydney seufzt und nickt verstehend. Dann wirkt sie plötzlich sehr nachdenklich. „Beim letzten Angriff hat einer der Rebellen etwas zu mir gesagt. Eine Frau mit eisblauen Augen." Ich stoppe mitten in der Bewegung. Callas. „Sie hat mich gefragt, ob ich wissen würde, wo es aufbewahrt wird. Ich fragte, was sie meinte. Danach hat sie mich an die Wand gedrückt und gewürgt. Sie hat sich zu den anderen umgedreht und meinte zu ihnen, dass sie bei ihm gucken sollen, bevor er weg ist." Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Daniel hatte auch gemeint, die Rebellen würden wahrscheinlich etwas suchen und würden deshalb immer wieder kommen. Hat er es gefunden? Kann es sein, dass er deshalb weggebracht wurde? Er ist der einzige, der weggegangen ist, zusammen mit... Ich sehe auf. Auf die Wache, die hinter Henry steht. Ein großer Mann mit breiten Schultern, aber nicht O'Donal. Sie haben uns gesagt, dass O'Donal eine starke Verletzung erlitten hat und deshalb den Dienst temporär nicht antreten durfte. Aber Garrett hatte mir versichert, dass ihm, als er ihn kurz nach Ende des Angriffes gesehen hatte, nichts gefehlt hat. Er muss also bei Daniel sein. Auf der einen Seite beruhigt mich das. Auf der anderen Seite weiß er wahrscheinlich mit am meisten und wäre jetzt die Person, mit der ich am liebsten geredet hätte. Ich hatte vor ein paar Tagen versucht mit Robert zu sprechen, aber dieser war auch nicht mehr da. Scheinbar wurden beide mit Daniel mitgeschickt. Kein Wunder. Sie hatten ihn ja auch am Besten gekannt. Wahrscheinlich sind sie die einzigen gewesen, die mit ihm in dieser Sommervilla waren. Was hatten die Rebellen gesucht? „Georgie", Sydney legt eine Hand auf meinen Arm und reisst mich damit aus meiner Gedankenwelt. „Ich habe verstanden, dass du nicht mit mir reden willst und ich weiß bei dir, dass du sicher deine Gründe haben wirst, es nicht zu tun. Aber bitte" Die Tür öffnete sich. „Pass auf dich auf!" Wir richteten unsere Aufmerksamkeit auf die Eintretenden. Es waren der König und ein Gast. „Meine Damen", verkündete der König. „Einige von Ihnen kennen ihn vielleicht schon vom Ball" Oh ja. Ich definitiv. „Aber es freut mich, ihn euch noch einmal persönlich vorstellen zu können. Bitte begrüßen sie meinen Neffen." Markus.

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