Kapitel 13: Die Nachtwache

585 34 12
                                    

Ich gehe zurück zu dem Fenster, durch das ich mich hinausgeschlichen habe. Zum Glück liegt mein Zimmer im ersten Stock, sonst hätte ich wirklich ein Problem dabei gehabt. Meine Zofen hatte ich schon vorher nach draußen geschickt mit der Ausrede, dass ich sehr müde war und schlafen wolle. Henrys Worte klingen mir immer noch im Ohr. „Ich hoffe, du findest einen wirklichen Grund, um hier zu sein und hier zu bleiben." War er wütend auf mich? Er wirkte nicht wirklich so, als er mich zurück schickte. Er hatte eher etwas... Nachdenkliches an sich. Aber worüber hatte er nachgedacht? Was hatte er damit gemeint? Ich schließe das Fenster und lasse mich rückwärts auf das Bett fallen. Ich werde einfach nicht schlau aus Henry. Er mag vielleicht genauso wie ich gerne lesen, aber er ist alles andere als ein offenes Buch für mich. Eher eins mit fünf dicken Schlössern daran. Ich genieße die Unterhaltungen mit ihm, aber nach jeder bleiben nur immer noch mehr Fragen zurück. Es ist, als wäre das Rätsel, wer der Kronprinz ist, noch größer geworden, seit ich weiß, wer der Kronprinz ist. Ich setze mich wieder auf. Das alles liegt bestimmt nur daran, dass ich ihn noch nicht so gut kenne. Ich bin ja erst seit drei Tagen hier. Wenn ich mich ein bisschen eingelebt habe, verstehe ich ihn bestimmt besser. Gott. Es kommt mir vor, als wäre ich schon ewig hier. Dabei habe ich ja noch nicht einmal meine Nachtwache... Oh stimmt ja! Meine Nachtwache! Jetzt kann ich endlich Atreju kennen lernen! 

Freudig springe ich auf. Henry ist plötzlich in meinen Gedanken ganz nach Hinten gedrängt worden. Ich schlümpfe in mein Nachhemd und den Morgenmantel, die auf meinem Bett lagen, damit es aussieht, als wäre ich im Bett gewesen. Meine anderen Klamotten verstaue ich wieder feinsäuberlich im Schrank. Dann gehe ich zur Zimmertür und öffne sie vorsichtig. Ein sehr großer, hellblonder Mann steht davor und dreht sich zu mir um. Das ist also Atreju Princeton. Er hat unnatürlich blaue Augen. Generell sieht er auffallend gut aus. Ich würde nicht sagen, dass er besser aussieht als Henry. Denn ganz ehrlich: kaum jemand sieht besser aus als Henry. Aber er ist definitiv ein Sahneschnittchen. „Guten Abend", begrüßt er mich. „Du bist sicher Lady Georgie." Da ist dieser leichte Akzent, von dem mir Garrett erzählt hat. Ich lächle. „Ja. Und du bist sicher Atreju Princeton." Er nickt. „Garrett hat mir gesagt, dass du gerne geduzt werden möchtest, stimmt das?" „Das ist absolut richtig!" Und ich muss mich unbedingt bei Gelegenheit dafür bei Garrett bedanken. „Hast du gut geschlafen?" Ich bin kurz davor, ihn zu fragen, was er meint. Bis mir einfällt, dass ich mich ja gar nicht offiziell mit Henry getroffen habe. „Oh, ähm, ja klar! Wie ein Stein!", beteuere ich. Meine Gedanken machen einen Sprung. „Sag mal, stehst du jetzt wirklich die ganze Nacht vor meiner Tür?" Meine Frage scheint ihn zu überraschen. „Äh... Ja. Irgendwer muss dich ja beschützen." Ich starre auf die leere Fläche neben der Tür. „Willst du dann wenigstens einen Stuhl haben?", überlege ich. „Dir müssen doch sonst irgendwann die Beine schmerzen." „Ach, das geht schon", beteuert er, „ist ja mein Beruf. Ich bin es gewohnt." Ich bin mit dieser Antwort nicht sonderlich zufrieden und schwöre mir, ihm trotzdem noch einen Stuhl rauszubringen. Es ist unnötig, dass er hier stundenlang stehen muss. „Ich stelle mir das sehr langweilig vor", meine ich, „hier die ganze Zeit alleine rumzustehen." Atreju winkt ab. „Ich bin ja nicht allein." Er deutet neben sich. Ich beuge mich aus dem Türrahmen. Stimmt ja. Sydney wohnt ja noch neben mir. Ihr Wachmann winkt mir zu. „Guten Abend!", begrüße ich ihn erfreut. „Ich hatte ganz vergessen, dass ich eine Nachbarin habe." Der Wachmann schüttelt tadelnd den Kopf. „Wie kann man Sydney nur vergessen?", sagt er gespielt aufgebracht. Ich lache. „Wartet kurz". 

Ich lasse die Beiden stehen und gehe zu dem Tisch in meinem Zimmer. Mit einem Stuhl in jedem Arm kehre ich zu den Beiden zurück. „Das muss nicht sein Georgie, wirklich...", versucht Atreju mich abzuwürgen, aber ich unterbreche ihn: „Das ist mir egal. Ich will nicht, dass ihr hier ewig stehen müsst. Morgen werde ich mit Henry sprechen und ihn Fragen, ob die Wachen Stühle bekommen können. Es bringt uns nichts, wenn ihr in einer Notsituation nicht richtig rennen könnt, weil eure Beine zu sehr weh tun." Ich stelle Atreju den Stuhl hin und bringe den anderen zu seinem erstaunten Kollegen. „Wie heißt du?", frage ich ihn, während ich das Sitzmöbel absetze. Er antwortet ein wenig perplex: „Charles. Charles Stirling." „Darf ich dich Charles nennen?" Er nickt einfach nur lächelnd. „Schön", freue ich mich. Ich gehe wieder zu meiner Tür. „Ich lass euch dann mal wieder alleine, Jungs." Drohend weise ich mit dem Zeigefinger zwischen den beiden hin und her. „Und wehe, ihr setzt euch nicht hin, wenn euch die Füße wehtun!" Atreju muss lachen. „Gute Nacht, Georgie." „Gute Nacht!" Auch Charles wünscht mir eine gute Nacht. Als ich die Tür hinter mir geschlossen habe, höre ich noch, wie er zu Atreju sagt: „Ich mag sie. Diese Frau hat Visionen."

Selection- Der versteckte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt