Kapitel 16: Fragen

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Henry schließt die Augen. Ich sehe, dass er mit sich ringt. Aber ich werde meine Frage nicht zurücknehmen, könnte es gar nicht. Ich will wissen, was hier vor sich geht. Nach einer Weile atmet er ein und beginnt: „Wir haben die Rebellen nicht gefunden und ausgeschaltet. Wir glauben noch nicht einmal, dass es Rebellen sind." Er lehnt seinen Kopf gegen die Wand und seine Lider heben sich. „Wir haben keine Ahnung, wer es ist. Aber Fakt ist: derjenige gibt nicht auf. Was auch immer diese Leute wollen, sie haben es noch nicht bekommen. Aber sie werden auch nicht aufhören, danach zu suchen. Dass der erste Anschlag bei meiner Geburt stattgefunden hat, ist wahr. Ich bin nicht im Schloss aufgewachsen, sondern in einer kleinen Sommervilla auf einer winzigen Insel in Domenika. Ich bin genauso wie ihr das erste Mal hier. Die Angriffe dieser Menschen habe ich nicht sonderlich mitgekriegt. Aber wie du vielleicht schon gemerkt hast, ist das auch nicht so schlecht. Denn der zweite Grund, weshalb ich nie dem Volk vorgestellt wurde ist..." Auf einmal wirkt er, als fiele es ihm sehr schwer darüber zu sprechen und als wäre ihm das Thema unangenehm. Dabei kam er mir sonst immer so selbstbewusst vor. Er dreht seinen Kopf zu mir und überlegt gut, was er sagt. „...Als ich klein war, hatte ich eine sehr schwache Konstitution. Meine Lunge ist mehr oder weniger defekt. Ich kann es nicht ganz beschreiben. Es ist wie sehr starkes Asthma. Aufregung oder Stress bekommen mir nicht. Und du kannst dir vorstellen, wie praktisch das für einen zukünftigen König ist. Es ist viel besser geworden. Aber immer noch nicht gut." Ich lache auf: „Immer noch nicht gut? Henry, ich hatte Angst, dass ich dich verlieren würde!" Ich erröte. Die Ausdrucksweise war vielleicht ein bisschen ungünstig gewählt gewesen, aber sie war einfach so aus mir herausgekommen. Ich sollte wieder anfangen, mehr zu denken, bevor ich spreche. Ich drehe meinen Kopf zu Henry. Er sieht mich sanft an und nimmt meine Hand. Auf einmal wirkt er auf mich anders. Reifer und vor allem verletzter. Als würde ich in seinem Blick die ganze Last auf seinen Schultern sehen. „Es ist alles in Ordnung, Georgie. Wirklich." Er schenkt mir ein zögerliches Lächeln. Ich drücke seine Hand. Irgendwie hilft sie mir tatsächlich. Groß. Warm. Kraft gebend. „Bitte." Ich sehe wieder zu ihm auf. „Bitte versprich mir, dass du es niemandem erzählst. Auch nicht, was gerade passiert ist." Wie kommt er überhaupt darauf, dass ich das tun würde? „Selbstverständlich! Du hast mein Wort!" Er lächelt. „Danke." Es tritt wieder ein kurzes Schweigen ein. „Henry?", spreche ich ihn an. „Was meinst du, wie lange sie bleiben werden?" Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht." „Ich habe Angst", gestehe ich. „Wir sind hier drin in Sicherheit. Und unsere Wachen sind die Besten. Das hast du ja an Officer Sheffield gesehen. Sie werden alle anderen genauso in Sicherheit bringen können." Das klang, als würde er sich selbst davon überzeugen wollen. „Das Einzige, worüber ich mir wirklich Sorgen mache, ist die psychische Verfassung der anderen Mädchen. Nicht alle werden so stark und verschlossen mit dieser Situation umgehen können wie du. Wir wollten eigentlich das Wissen über diese Leute von dem Volk fern halten und das wird schwer werden. Aber du kannst jetzt verstehen, warum ich so darauf bestanden habe, dass immer eine Wache in eurer Nähe ist, oder? Und warum es eigentlich auch unverantwortlich von mir war, dich allein treffen zu wollen?" Ich denke daran zurück, was Henry mir an diesem Abend gesagt hat. „Ich hoffe, du findest einen wirklichen Grund um hier zu sein, und hier zu bleiben, Georgie." Jetzt ist nicht die Zeit, um über so etwas zu philosophieren. „Du meinst also, dass sie wieder angreifen werden?" „Ich weiß nicht, wie oft und wie bald. Aber sie werden wiederkommen, ja. Das ist ja auch der Grund, weshalb..." Seine Augen weiten sich und er schüttelt den Kopf, so als hätte er sich fast verplappert. Er zieht seine Hand aus meiner. „Weißt du was? Ich denke, wir sollten aufhören, darüber zu reden. Das macht es auch nicht besser. Im Gegenteil: ich glaube, das wird uns nur noch nervöser machen." Hm. Ich frage mich, was die Königsfamilie uns alles verheimlicht. Ich denke, ich bin dem ganzen schon ein Stück näher gekommen. Aber nur ein winzig kleines. Hinter der ganzen Sache, vielleicht sogar der Selection, steckt mehr, als man uns sagen will. „Was hältst du davon, mir etwas vorzulesen? Als Entschädigung für letztes Mal?" ich lache auf: „Entschädigung? Du wolltest mir unbedingt vorlesen! Aber na gut, wenn du willst." Er lächelt. „In dem Schrank dahinten sind Bücher." „Du hast einen Notfall-Bücherschrank?" Henry grinst und zuckt mit den Schultern. „Irgendwie muss man sich doch während einer Belagerung beschäftigen können, oder?" Neugierig durchwühle ich die Bücher. Das Gefühl des Papiers an meinen Fingern beruhigt mich ein wenig. „Mal sehen... Was hältst du von ‚Der Große Gatsby'? Von F. Scott Fitzgerald?" „Die goldenen Zwanziger. Warum nicht?" Ich nehme das kleine Buch mit dem türkisen Leineneinband, setze mich wieder neben Henry und beginne zu lesen. „Als ich noch jünger und verwundbarer war, gab mein Vater mir einmal einen Rat, der mir bis heute im Kopf herumgeht. ‚Wann immer du jemanden kritisieren willst', sagte er, ‚denk daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt es so gut hatten wie du.'" „Ich wünschte mehr Menschen würden sich diesen Rat zu Herzen nehmen." Ich sehe Henry an. Seine Augen sind geschlossen und er lehnt seinen Kopf an der Wand an. „Ich wünschte mir generell, dass vieles anders wäre." „Aber irgendwann kannst du selbst auch vieles verändern", erinnere ich ihn, „Das ist das Gute daran, wenn man König wird." Henry öffnet seine Augen nicht. Er lächelt nicht und bleibt eine Weile still. „Da hast du wohl Recht", meint er. Aber seine Stimme klingt nicht sonderlich überzeugt. Ich lese weiter. Henrys Atem neben mir wird immer flacher, bis ich mir irgendwann sicher bin, dass er eingeschlafen ist. 

Selection- Der versteckte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt