Kapitel 26: Neustart

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Ich fahre hoch. „Dan..." Ich halte mir schnell den Mund zu. Das kann nicht wahr sein. Das kann absolut nicht wahr sein. Er hat gesagt, er wäre ein anderer. Er hat gesagt, er würde mich lieben. Wer auch immer er ist. Er liebt mich. ER liebt mich. Die Rebellen. Gott, lass ihn nicht tot sein! Meghan tritt hinter dem Baldachin neben mir hervor. Sie trägt ein Tablett mit medizinischen Utensilien darauf und wirkt sehr überrascht und erleichtert mich wach zu sehen. „Georgie!", meint sie. „Du bist wach!" „Wo ist Henry?", frage ich und will die Decke zur Seite ziehen um aufzustehen. Meghan stellt schnell das Tablett ab und kommt zu mir. „Nicht! Du hängst noch am Tropf, du Dummerchen!" Ich setze mich trotzdem auf die Bettkante. Und zucke anschließen zusammen und halte meinen Kopf. „...Und eine ganz schöne Gehirnerschütterung." Ich möchte noch einmal nach Daniel fragen, aber- Himmel! Mein Kopf schmerzt zu sehr! „Ich muss Garrett holen, er wird sich so sehr freuen, dass du..." „Georgie", Garrett tritt ebenfalls um die Ecke. Sein Gesicht ist fahl und seine Augenringe tief und dunkel. Er kommt auf mich zu und nimmt mich so fest in den Arm, dass ich kurz überrascht ausschnaufe und fast meine Kopfschmerzen vergessen hätte. „Ich hab mir so verdammt Sorgen um dich gemacht! Jag mir nie wieder solche Angst ein!" Ich lege meine Hände auf seinen Rücken und blinzle mit einem leichten Lächeln eine Träne weg. Er löst sich wieder von mir und sieht mich an, als würde er mich nach Dingen absuchen, die nicht ganz in Ordnung an mir sind. „Wie lange war ich denn weggetreten?", frage ich. „Richtig bewusstlos ist man nach einer Gehirnerschütterung nie länger als eine Stunde. Ansonsten hättest du ein schweres Schädelhirntrauma. Dann wärst du entweder tot oder hättest schwere Folgeschäden davongetragen", erklärt Meghan. Gute Güte. „Du warst kurz wach, hast irgendetwas von ‚Nicht er! Nicht er!' wie eine wahnsinnige immer wieder geflüstert und bist wieder eingeschlafen. Gut möglich, dass du dich nicht mehr daran erinnern kannst. Amnesie ist eines der Symptome eines mittelschweren Schädel-Hirn-Traumas. Zwölf Stunden lang hast du seitdem geschlafen. Du musst echt erschöpft gewesen sein. Wer kann es dir verdenken! Der Doktor konnte dich logischerweise noch nicht richtig untersuchen. Ich werde ihn sofort holen." Meghan nimmt ihr Tablett wieder und setzt zum Gehen an, hält aber nochmal inne. „Ach so! Der Eimer steht links von Garrett, solltest du..." Mit den Reflexen, die man von einem Elitesoldaten erwarten würde, schnappt sich Garrett mit der einen Hand den Eimer und hält mit der anderen mein Haar zurück. Der beste Freund, den ich mir wünschen könnte! „Danke", murmle ich und übergebe mich anschließend noch einmal. „Keine Ursache", verspricht er vollkommen ohne Wertung. So einen Freund sollte jeder haben! Meghan seufzt erleichtert auf und aus dem Augenwinkel sehe ich sie mit einem mitleidigen Lächeln den Arzt holen gehen. „Wie fühlst du dich?", fragt Garrett, stellt den Eimer beiseite und reicht mir ein Taschentuch. „Beschissen", erwidere ich lächelnd und wische mir den Mund ab. „Erst diese Migräne und jetzt das! Hat mein Kopf nicht schon genug gelitten?" Ich verdrehe die Augen und fasse mir anschließend erneut an den Kopf, lächle Garrett aber sofort wieder an. Er geht an einen Schrank neben meinem Bett und holt ein Kühlpack aus einer Gefrierfach. „Ich bin so froh, dass es dir sonst einigermaßen gut geht!", meint er mit einer so tiefen Erleichterung in der Stimme, dass es absolut rührend ist. „Die meisten Mädchen konnten sich sehr schnell in einem der Sicherheitsräume verstecken, aber Lady Suzanna..." Das Mädchen, dass mit ihrem Vorstellungsvideo für den Blog das erste Date gewonnen hatte. Immer gefasst und ruhig, aber auch sehr humorvoll. Ich hatte nicht so viel mit ihr zu tun wie mit anderen, fand sie aber immer sehr angenehm und habe mich gut mit ihr verstanden. Er schluckt und wickelt das Kühlpack in ein Tuch. „Die Kugel war zu schnell und sie zu langsam. Sie ist tot, Georgie." Mein Kopf tut schlagartig noch einmal doppelt so stark weh. Mein Gott! Mein Gott! Ich schlage mir ungläubig die Hand vor den Mund. Mein Gott! Ich möchte schreien, aber dafür habe ich nicht genug Atem. Also laufen mir einfach nur still Tränen über die Wangen hinunter. Dieses Casting. Einen Prinzen kennenlernen dürfen, Freundinnen finden, hübsche Kleider anziehen, Spaß haben. Hübsch, nett, bunt, fröhlich, sorglos. So war es nicht. Es war kein Märchen. Es war ein Albtraum. Und ich war mittendrin. Suzanna! Ich kannte dich nicht gut, aber du warst so ein liebes, kreatives, warmherziges Mädchen. Und jetzt werde ich dich nie besser kennenlernen können. Es tut mir so leid. Du wolltest doch nur ein Abenteuer. Ich wollte nur ein Abenteuer. Und jetzt sieh uns beide an. Es tut mir so leid. Garrett zieht den Stuhl vor mir näher an mein Bett und setzt sich darauf. „Als ich sie da liegen sah... Ich hatte so Angst, dass du..." Er atmet laut aus. „Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen. Ich hätte schneller sein müssen. Das hättest du sein können. Ich bin eine miserable Wache. Es tut mir so leid, Georgie." „Ich bin dir weggelaufen", schniefe ich und wische mir die Nase ab. „Erinnerst du dich, was du mir gesagt hast, als wir uns kennengelernt haben?" Ich atme tief ein und sehe Garrett an. „Du hast mir gesagt, du wärst der beste. Und das denke ich immer noch. Und der beste Freund sowieso." Er lächelt, sieht immer noch leicht schuldbewusst drein und reicht mir das Kühlpack. „In dem Moment hätte mich niemand halten können", gebe ich ernst zu. Ich beiße die Zähne zusammen, als die Kälte meine schmerzende Schädeldecke berührt. „Georgie, was ist passiert?", fragt Garrett. Ich sehe mich um. „Gibt es hier Kameras?", flüstere ich und versuche dabei so unauffällig wie möglich auszusehen. Garrett sieht verwundert aus, aber nicht so, als würde er mich für verrückt halten. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Es ist gut, weil er mich ernst nimmt, aber schlecht, weil das so eine angebrachte Frage ist. Wo bin ich hier gelandet? Ich nehme mein Kühlpack kurz runter und streiche darüber. „Ja. Aber ohne Ton", antwortet Garrett. Sein Blick sieht so eindringlich aus, dass es mir Angst macht. Er sieht die Sorge in meinem Blick und nimmt meine Hand. „Was ist passiert, Georgie?", flüstert er. „Wusstest du, dass Daniel nicht der echte Henry ist?" Er versucht sich nichts anmerken zu lassen für die Kameras, aber ein Muskel in seinem Kiefer zuckt. „Was?" „Ich weiß nicht, wer er ist. Aber ein meinte, sein Name wäre Daniel. Ich hatte ihn inoffiziell vor dem ersten Kennenlernen getroffen, als ich nach meinem Armband gesucht habe. Da hatte er sich mir auch so vorgestellt. Er meinte später, es wäre sein Zweitname. Aber er hat später noch öfter mit diesem Namen auf sich referiert und..." Ich beiße mir auf die Lippe. Das klingt so verrückt. Aber ich kenne ihn. Ich sehe Zeichen, seltsame Verhaltensmuster in unseren Unterhaltungen und ich glaube, sie deuten alle darauf hin, dass... „Ich glaube, er ist nicht der echte Prinz. Ich weiß nicht, wer er ist. Aber vor diesem Casting hat niemand den Prinzen je gesehen. Sie hätten jeden nehmen können. Vielleicht existiert ein echter Prinz Henry gar nicht." Garretts Hand um meine versteift sich. Sein Atem geht beinahe unbemerkbar schwerer und sein Blick ist sehr eindringlich. „Georgie, das sind sehr schwere Anschuldigungen. Anschuldigungen und Vermutungen, die dich nicht nur sprichwörtlich deinen Kopf kosten könnten." Ich unterdrücke den Drang zu den Kameras aufzusehen und lege das Kühlpack wieder auf meinen Kopf. „Ich weiß...", meine ich und nicke mehrmals. „Ich weiß." Garrett blickt nachdenklich zu Boden. „Bist du dir ganz sicher, Georgie?" Er könnte mich melden. Er müsste mich melden. Besonders wenn ich Recht hätte. Wenn er es nicht tut, ist er selbst in Gefahr. Das hier ist gerade der größte Vertrauensakt, den ich je jemandem gegenüber gemacht habe. Ich lege wortwörtlich mein Leben in seine Hände. Hoffentlich ist es nicht die falsche Entscheidung. Und hoffentlich bringe ich ihn damit nicht mehr in Gefahr als mich selbst. Aber ich kenne auch niemanden im Schloss, dem ich es sonst erzählen würde, und ich kann das nicht für mich behalten, sonst platze ich. Ich nehme mir vor, zumindest meine Zofen aus der Angelegenheit raus zu halten. Zu ihrem eigenen Schutz. „Ich bin mir ganz sicher, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zu geht", antworte ich wage. „Als ich weggegangen bin, hat Henry... Daniel..." Ich weiß immer noch nicht, wie ich ihn adressieren soll und schüttle meinen Kopf. Das ist jetzt wichtig. Ich sehe Garrett in die Augen. „Er hat mich gewarnt. Ich weiß nicht vor wem. Aber er meinte, ich solle nichts tun, was er verlangt, außer ich halte es für absolut notwendig. Und er sagte immer wieder: ‚Denk daran: das bin nicht ich!'" Garrett nickt verstehend und blickt zur Seite. Er kann meinen Gedankengang nachvollziehen. „Wo ist er jetzt?", möchte ich wissen. „Er ist bei der Königsfamilie, um die Folgen für den Angriff zu mildern und..." Garrett schüttelt den Kopf. Das war die offizielle Version. Aber die ist nicht mehr ausreichend. Er sieht mich an. „Ich weiß es nicht. Über Nacht kam eine Riege Wachen ins Schloss, die vorher nicht da war. In den Unterkünften musste Platz für sie gemacht werden. Extra Feldbetten wurden aufgestellt. Ich dachte, es wäre Verstärkung wegen des Angriffs. Aber es hat mich sehr gewundert, dass sie so unwillkürlich danach schon eingetroffen war. O'Donal hab ich nicht beim Briefing gesehen und auch danach nicht. Das ist ungewöhnlich. Ich glaube nicht, dass Henry... Daniel... verletzt ist. Nachdem ich dich weg gebracht habe, wurde er sofort von O'Donal weggeführt. Ich hab ihn noch einmal kurz danach gesehen, wie er Lillian..." Er redet nicht aus. „Wie er Lillian...?" Das würde ich wirklich gerne wissen. Was ich über Lillian weiß, kann ich ihm in diesem Moment unmöglich sagen. Aber vielleicht würde seine Information mein Bild von ihr ein bisschen klarer machen. Er schüttelt den Kopf. Er sieht dabei wie ein verletztes Tier aus. Ich verziehe verwirrt leicht meine Augenbrauen. „Nicht so wichtig. Es geht O'Donal gut. Dann wird es auch ihm gut gehen. Bevor ihm etwas passieren würde, würde O'Donal die Kugel für ihn abfangen." Ich atme erleichtert auf. Zumindest das. Aber ich frage mich, ob er wieder einen Anfall hatte, von dem er sich erholen muss. „Wissen die Wachen von seiner Krankheit?", überlege ich laut. Garrett legt den Kopf leicht zur Seite. „Selbstverständlich. Wir mussten ja auch im Bilde sein, um das Geheimnis zu wahren und es und ihn entsprechend schützen zu können. Wie hast du..." Ich sehe ihn an. Seine Augen weiten sich leicht. „Er hat es dir gesagt, oder?" Ich nicke zögerlich. „Ich war dabei, als er einen Anfall hatte. Ich hoffe, es geht ihm gut. Ich würde nicht ertragen, wenn er..." Ich spüre, wie Tränen hinter meinen Augenlidern aufsteigen. Garretts Blick wird augenblicklich weicher und sanfter. Er lächelt ehrlich erfreut. „Egal, was hier los ist. Ich glaube, er liebt dich wirklich sehr, Georgie." Ich lächle. Ich weiß. Wir hören Schritte. Garrett dreht reflexartig seinen Kopf in die Richtung, aus der die Geräusche kommen, besinnt sich dann aber eines besseren und lächelt entspannt in die Richtung. Er sieht mich mit dem gleichen Lächeln an, aber seine Augen drücken Kampfgeist aus. „Ich werde versuchen herauszufinden, was ich kann." Er drückt meine Hand fest. „Danke für dein Vertrauen." Ich lächle, schlucke und atme tief ein. Wie durch ein Wunder schaffe ich es meine Augen wieder trocken zu kriegen, bevor der Arzt um die Ecke biegt. „Da haben wir ja unsere Lady Georgie!" Er wirkt freundlich, braunes Haar, eine Brille. In seiner einen Hand hat er ein Klemmbrett und er klickt auf den Kuli in seiner anderen. „Wie geht es ihr?", möchte er wissen. Garrett streichelt mit seiner freien Hand über meine. „Ein bisschen besser, möchte ich meinen." Ich nicke. „Durch den Kühlakku auf jeden Fall, ja." Der Arzt tritt zu uns. „Sie müssen aufstehen, junger Mann. Sonst kann ich die Untersuchung nicht beginnen." Garrett nickt eifrig. „Oh. Ja." Der Arzt könnte es nicht sehen, aber ich merke, dass er innerlich gerade sehr die Informationen verarbeitet, die ich ihm gerade gegeben habe. „Selbstverständlich!" Er streicht noch einmal kurz über meine Hand und springt auf. Der Arzt setzt sich auf seinen Platz und sucht nach etwas auf dem Tisch rechts neben ihm. „Ein gut gemeinter Rat: seien sie vorsichtig. Es ist schön, wenn sie gut befreundet sind. Aber passen sie auf, dass es nach außen nicht so aussieht, als wäre es mehr als das. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Wache und eine Erwählte sich zu nahe kommen und das nicht gut für sie ausgeht. Und wir wollen ja gar nicht erst riskieren, dass jemand auf den Gedanken kommen könnte, es wäre hier der Fall, nicht wahr?" Garrett und ich tauschen einen langen Blick aus, über den Rücken des Arztes hinweg. „Selbstverständlich, Sir", meint Garrett, ganz der Soldat. „Es besteht kein Grund zur Sorge. Aber wir werden aufpassen, keine falschen Vorwürfe auf uns zu ziehen." Hinter seinen Augen rennen tausend Gedanken. Wir waren uns gerade auf eine ganz andere Weise viel zu nah gekommen. Uns vereint jetzt ein Geheimnis. Eine Komplett andere Verbindung. Aber eine, die die gleichen Folgen haben könnte.

Selection- Der versteckte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt