Kapitel 21: Der Leuchtturm

419 24 0
                                    

Ich laufe Gedankenverloren die Gänge entlang. Wenn Lillian und Markus tatsächlich planen, dem Königshaus in irgendeiner Weise zu schaden, dann müssen Henry und der König es auf jeden Fall erfahren. Aber wer bin ich schon, diejenige zu sein, die es ihnen sagt? Warum sollten sie mir, einer Bürgerlichen, die erst seit zwei Wochen überhaupt Kontakt zu Adligen hat, glauben? Vielleicht hat O'Donal recht. Vielleicht sollte ich meine Nase doch nicht in solche Angelegenheiten stecken. Vielleicht ist das Ganze viel zu gefährlich für jemanden wie mich, der nur über Abenteuer liest und schreibt, sie aber selbst niemals erlebt hat und auch niemals erleben wird. Oder vielleicht ist das mein Abenteuer, auf das ich die ganze Zeit in unserem kleinen Dorf gewartet habe? Wenn Henry und der König wirklich ernsthaft in Gefahr schweben: könnte ich sie dann vielleicht retten? Oder wissen sie sogar schon, dass sie in Gefahr schweben und wer ihre Feinde sind? Stammen die Angriffe wirklich alle von Markus und Lillian? Kämpfen der König und Henry ohne es zu wissen gegen ihre eigenen Verwandten? Wie weit läuft das Netz, dass Markus und Lillian gesponnen haben? Sind Sie wirklich so gefährlich, dass wir zu jeder Tageszeit eine Wache bei uns haben müssen? Und warum wurde mir eigentlich jetzt keine Wache zugeteilt? Und wo bin ich eigentlich? Ich bleibe stehen. Mist. Ich habe mich alleine auf dieser Etage komplett verlaufen. In der Hoffnung die Fenster meines Zimmers von hier aus erkennen zu können, sehe ich aus dem Fenster. Doch ich blicke nur auf einen kleinen Innenhof, den ich nicht wiedererkenne. Gott. Was für ein Tag! Leicht panisch eile ich weiter, mit dem Ziel einen Raum zu finden, den ich kenne. Ohne Erfolg. Wie groß ist dieses Schloss? Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon gelaufen bin, aber es war lang genug, um meine Füße müde zu machen. Sie beginnen langsam weh zu tun. Und das obwohl die Schuhe, die ich von Henry bekommen habe, perfekt passen, unglaublich bequem sind und nach all den Veranstaltungen, die wir Erwählten nun schon hinter uns haben, auch wirklich gut eingelaufen sind. Irgendwann sehe ich es. Wie ein Leuchtturm in einer stürmischen Nacht. Das Schild von Henrys Privatbibliothek. Wahrscheinlich würde ich durch das eine Mal, bei dem ich hier gewesen bin, nicht von alleine wieder zu meinem Zimmer finden können. Aber Robert, der freundliche Bibliothekar, hatte mir immerhin schon einmal geholfen, mich im Schloss zurecht zu finden und ich bin sicher, er würde es wieder tun. 

Mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen gehe ich mit strammen Schritten neuen Mutes auf die Tür zu, die leicht offen steht. Von drinnen höre ich Roberts Stimme: „Glaub mir: du betrügst hier niemanden." Ich stoße vorsichtig die angelehnte Tür auf und gehe leise hinein. Henry sitzt auf dem Ledersessel. Er sieht sehr müde und bedrückt aus. Die Beine hat er auf einen ledernen Hocker gelegt und auf seinem Schoß ruht ein offenes Buch. Sein Blick richtet sich auf Robert, der an einen anderen Sessel ihm gegenüber gelehnt auf ihn herabsieht. „Doch das tue es. Ich hätte es beenden können, als ich gemerkt habe, dass es begonnen hat. Ich hätte es kontrollieren können", baharrt Henry. Robert schüttelte den Kopf. „Solche Dinge kann man nicht kontrollieren." „Entschuldigung...", mache ich mich bemerkbar. Ich will nicht schon wieder ein Lauscher an der Wand sein. Henry schreckt hoch, wobei ihm fast das Buch vom Schoß fällt, aber er kann es gerade noch so fangen. „Störe ich?", will ich wissen. Henry reibt sich mit der freien Hand übers Gesicht und schüttelt den Kopf. „Ach was", meint er. „Was tust du hier? Wo ist deine Wache?" Ich gehe auf die beiden zu und erkläre: „Ihr habt mir vorhin keine zugestellt und dann bin ich alleine los gelaufen. Aber ich hab mich auf dem Weg zu meinem Zimmer scheinbar irgendwie verlaufen..." „Du bist die ganze Zeit herumgeirrt?" Ich nicke leicht peinlich berührt. „Aber es ist schon fast Zeit fürs Mittagessen!" Ich zucke mit den Schultern und lächle verlegen. „Oh Gott!", empört sich Robert und deutet mir, mich auf den Sessel vor ihm zu setzen, was ich sehr gerne tue. „Dann setz dich erstmal! Du bist ja seit Stunden umhergelaufen und musst völlig erschöpft sein! Ich mache euch einen Tee." Er wirft Henry einen eindringlich Blick zu, geht dann die Treppe hoch und verschwindet hinter einem der zahlreichen Bücherregale. Henry und ich sitzen beide eine Weile schweigend da. Keiner von uns beiden weiß wohl so genau, wie man ein unbeschwertes Gespräch darüber beginnen soll, dass man den anderen gestern Nacht geküsst hat und jetzt keine Ahnung hat, wie sich derjenige darüber fühlt. Irgendwann wird mir das Ticken der Standuhr zu viel und ich frage: „Was liest du?" Er hebt das Buch so an, dass ich den Einband sehen kann und meint mit einem zögerlichen Lächeln: „Les Miserables. Victor Hugo." „Hm." Ich ringe mit den Händen und sehe mich um. „Du siehst auch ziemlich miserabel aus", gebe ich zu und sehe ihn mitfühlend an. Er nimmt ein Lesezeichen vom Kaffeetisch neben ihm und schließt das Buch. „Ich lese gern über das Leid von anderen, wenn es mir selbst nicht so gut geht." War der Kuss so schlecht gewesen? „Wow. Dann muss es dir deinem Lesestoff nach zu urteilen wirklich absolut schrecklich gehen. Ich meine: das Buch heißt wortwörtlich ‚die Elenden'." „Ja", gibt er mit einem kleinen Lachen zu und legt den Wälzer neben sich ab. „Georgie, wegen des Kusses..." Als gute Freundin sollte ich ihm eigentlich sagen: „Ach was! Mach dir nichts draus. Vergeben und vergessen!" Aber ich bin viel zu neugierig auf das, was er zu sagen hat, als dass ich ihn unterbrechen würde. Ich rutsche ein Stück weiter auf dem Sessel nach vorne. „Ja...?" Er sieht auf seine Hände runter. „Es tut mir leid." Es tut ihm LEID? „Nicht der Kuss an sich! Das war..." Er läuft knallrot an und räuspert sich. Ich unterdrücke ein Schmunzeln. Zumindest das. „Ich hätte dich nicht einfach so küssen dürfen. Das war falsch von mir. Tut mir leid. Und es tut mir leid, dass ich danach einfach so weggerannt bin. Aber du musst verstehen: es ist einfach manchmal sehr schwierig bei so einer seltsamen Veranstaltung seine Gefühle und Taten im Zaum zu halten." Er fügt leiser hinzu: „Und ich freue mich irgendwie jetzt schon darauf, wenn das alles hier vorbei ist..." Und da kommt mir auf einmal das erste Mal der Gedanke, dass Henry die Selection vielleicht gar nicht abhalten will. „Als ein Mitglied der Königsfamilie sollte man sich nicht derart gehen lassen, weißt du?", vertraut er mir an. „Man muss immer die Fasson wahren. Keine Entscheidungen aus rein emotionalen Gründen treffen." Auch wenn ich das Gefühl habe, nicht ganz zu verstehen, sage ich: „Ich verstehe. Als König muss man einen klaren Kopf bewahren können." Mir ist ja selber gerade nochmal aufgefallen, wie sehr Gefühle einen manchmal verwirren können. Und vielleicht ist Henry, was das, was er für mich fühlt, betrifft, genauso verwirrt und unschlüssig, wie ich mit dem, was ich für ihn fühle. Er seufzt und steht auf. „Manchmal, da..." Er stellt sich hinter seinen Sessel und sieht mich an. „Manchmal hasse ich es, mich wie ein Prinz verhalten zu müssen." Die Bürde, die auf ihm lastet, muss enorm sein. Ich habe noch nicht viel von dem, was es mit sich bringt adelig zu sein, mitbekommen. Aber schon mit dem wenigen, fühle ich mich teilweise überfordert. Deshalb kann ich mir seine Unsicherheit darüber, ob er mit alledem wirklich klarkommt, kaum vorstellen. Ich versuche ihn zu beruhigen: „Du bist ein wunderbarer Prinz." Er läuft zu einem der Bücherregale und streicht über die Buchrücken. „Ich fühle mich nicht so", gesteht er. In seiner Stimme liegt so ein tiefer Schmerz, dass es mich erschreckt. Er wirkt immer so selbstsicher und gelassen. Seit wir hier angekommen sind, ist er stets freundlich und charmant gewesen. Von den Zeitschriften, die im Damensalon liegen, und den Kommentaren auf unserem Blog weiß ich, dass er jetzt schon äußerst beliebt beim Volk ist und es ihnen so vorkommt, als hätte es nie eine Zeit ohne seinen sanften Blick und sein strahlendes Lächeln gegeben. Es kommt mir ja selbst so vor. Dass er in Wahrheit so unglücklich sein könnte, hätte ich niemals für möglich gehalten. Und es zerreißt mir das Herz ihn so zu sehen.

Selection- Der versteckte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt