Kapitel 17: Verarbeitung

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„Also: Gemälde oder Statue?", fragt mich Lana. Sie ist Feuer und Flamme für den anstehenden Ball. Und was ihr noch viel wichtiger ist: das dafür benötigte Kleid. Der Gedanke, ein Kleid für mich entwerfen zu dürfen, dass einen Wettbewerb gewinnen könnte und dann auch noch zu so einem ausgefallenem Thema, euphorisiert sie geradezu. „Der Mensch als Kunstwerk". Leider fällt es mir schwer, ihren Enthusiasmus zu teilen. Zu viele andere Dinge kreisen seit dem Angriff in meinem Kopf umher. Von wem stammte er? Worauf wollen sie hinaus? Wie gefährlich sind diese Menschen wirklich? Immerhin schien dem Königspaar die Bedrohung durch sie groß genug, um ihren Sohn und Thronerben Jahre lang unter schwierigsten Bedingungen versteckt zu halten, und sie hielten es für nötig, dass jede von den Erwählten eine Private Wache hat. Und was ist mit Henrys schwacher Konstitution? Wie schlimm ist sie tatsächlich? Ist sie vielleicht auch mit ein Grund, weshalb er nie der Öffentlichkeit vorgestellt wurde? Was wird uns noch verheimlicht? Ob die Bediensteten mehr wissen? Oder ob sie genau so im Dunkeln tappen wie wir? Ich vermute, dass zumindest die Wachen in die Geheimnisse eingeweiht wurden. Nur in wie viele ist die Frage. Ich könnte Garrett, Atreju und meine Zofen dazu befragen, aber ich traue mich nicht recht. Zumindest jetzt noch nicht. Ich frage mich, wie sie wohl mit den Mädchen vorgehen, die sich trotz der königlichen Anweisungen verplappern. Würden sie tatsächlich so weit gehen, ihnen... etwas anzutun? Die Todesstrafe wurde zwar schon vor Jahrzehnten abgeschafft, aber es gibt ja noch etliche andere Wege, Verräter und Feinde aus dem Weg zu räumen. Der König und die Königin kamen mir so nett vor und werden vom Volk durchaus sehr geliebt. Aber Könige müssen wahrscheinlich mehr solcher Entscheidungen treffen, als ihnen lieb ist. „Georgie? Du hörst mir ja schon wieder nicht richtig zu!", empört Lana sich. Ich blinzele mehrmals und versuche angestrengt, meine Konzentration wieder auf sie zu richten. „Entschuldige. Ich stehe einfach momentan ein bisschen neben mir." „Pass lieber auf!", meint Mia schelmisch und stellt eine Tasse Tee vor mir auf dem Tisch ab. „Sonst machst du Christy noch ihren ersten Platz in dieser Disziplin streitig." Ich drehe meinen Kopf zu Christy. Sie steht da wie ein Mehlsack mit einem Stapel Handtüchern im Arm. Ihre Augenringe sind so tief, dass ich mich ernsthaft um ihre Gesundheit sorge. „Oh mein Gott! Christy? Was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja aus wie eine Leiche!" Sie hält sich eine Hand vor den Mund und gähnt. „Millie, also meine Tochter, ist erkältet und hat die ganze Zeit nicht geschlafen. Deshalb konnte ich verständlicherweise auch nicht schlafen." „Wie alt ist sie inzwischen noch mal?", möchte Lana wissen. Christy legt die Handtücher ab. Naja, lässt sie plumpsen, trifft es wohl eher. „Sie wird bald zwei." „Soll ich dir irgendwie einen Kaffe besorgen oder so? Du siehst aus, als könntest du dringend einen gebrauchen", schlage ich ihr vor. Daraufhin sieht sie mich missbilligend mit ihren müden Augen an. „Wir sind immer noch deine Bediensteten. Du erinnerst dich?" Ach. Stimmt ja. „Entschuldige. Ich bin einfach keine Bediensteten gewohnt. Ihr seid nunmal eher wie Freunde für mich." Mia lächelt mich liebevoll an und steht mit den Worten: „Ich gehe und hole ihr einen Schokoccino", auf. „Manchmal vergesse ich sogar, dass ich mich in einem Schloss und vor allem in einer gehobenen Stellung befinde", gebe ich zu, während ich beobachte, wie sie die Tür hinter sich schließt. „Ja!", bellt Lana. „Und genau da liegt dein Problem! Es sind nur noch drei Tage bis zum Ball und wir haben noch nicht einmal angefangen, dein Kleid zu designen! Stattdessen saßt du die ganze Zeit da und hast an deinem Buch weitergeschrieben." Eigentlich sollte es eine Kurzgeschichte sein, aber egal. Seit kurzem nutze ich sie noch aktiver, um all meine Gedanken und die Geschehnisse zu verarbeiten. „Irgendwann müssen wir das auch noch nähen können! Außerdem will ich, dass du gewinnst!" Gewinnen ist mir gar nicht so wichtig. Und das Letzte, was ich im Moment möchte, ist feiern. Aber Lanas Blick macht mir eindeutig klar, dass sie nicht mit sich diskutieren lässt. Also seufze ich und ergebe mich meinem Schicksal. Mein Gott. Unter anderen Umständen hätte ich mich doch gefreut auf einen Maskenball gehen zu dürfen! „Also gut. Packen wir's an", füge ich mich. Lanas Augen leuchten. Sie setzt sich gerade hin und legt ein paar Blätter und einen Bleistift vor mir auf den Tisch. „Also gut. Noch einmal: Gibt es irgendein Gemälde oder eine Statue, die du besonders gern magst?" Augenblicklich kommen mir Berninis Statuen in den Sinn. Aber davon kann ich mir irgendwie keine so richtig als Kleid vorstellen. Vielleicht etwas Abstrakteres... Ich hab's. Entschlossen stürze ich mich auf meinen Laptop und gebe „Kandinsky" ein. Beim scrollen stoße ich auf ein Bild namens „Auf Spitzen". Das sieht äußerst interessant aus. Lana steht inzwischen hinter mir und betrachtet neugierig den Bildschirm. „Dreh es mal um", überlegt sie. Ich gehe in ein Bildbearbeitungsprogramm und befolge ihren Befehl. Sie grinst. „Siehst du das, was ich sehe?" Ich lächle ebenfalls. „Ja", gebe ich ihr Recht. „Das ist eindeutig ein Rock." Lana schnappt sich den Laptop und drückt ihn überglücklich gegen ihre Brust. Dann führt sie einen albernen Freudentanz auf. Kleider scheinen wirklich ihre Leidenschaft zu sein. „Oh Georgie! Das ist perfekt!", schwärmt sie. „Ich sehe es genau vor mir! Du wirst wundervoll aussehen!" Plötzlich bleibt sie stehen und ihr Blick wird finster. „Aber das hätte dir ruhig auch schon vor ein paar Tagen einfallen können." Wow. Stimmungsschwankungen. Sie lächelt wieder. „Ich geh' das mal ausdrucken." 

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