TRIGGERWARNUNG (Um Spoiler zu vermeiden bitte für nähere Informationen ans Ende des Kapitels scrollen.)
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Etwas in mir setzt aus. Ich bin mir nicht sicher, ob es mein Herzschlag ist oder mein Verstand, aber für einen Moment bin ich ausgeschaltet. „Was?" Meine Stimme klingt weit entfernt, gedämpft, als würde ich unter Wasser sprechen. Er sieht zu mir auf. Seine Augen sind genauso blau wie seine. Aber dieser gelbe Ring in ihren scheint sich in meine Haut zu Bohren wie ein Dornenkranz. Er schlingt sich um mich, meine Handgelenke, mein Fleisch, meinen Hals. Ich ersticke. Henry lächelt. Es ist sanft und liebevoll. Ich will ihn am liebsten erwürgen. Dafür, dass er ihm so ähnlich sieht. Dafür, dass er nicht er ist. „Du weißt, ich wollte von Anfang an keine andere als dich." Ich kenne dich gar nicht. Ich weiß nicht, wer du bist. „Ich wollte dir mehr Zeit geben. Ich verstehe, dass dies eine schwere und lebenswichtige Entscheidung ist." Ich möchte schreien, aber ich kriege keine Luft. „Aber ich weiß, was ich für dich fühle. Ich habe es von Anfang an gewusst." Sag es nicht. Wenn du es jetzt sagst, werde ich zusammenbrechen oder rennen oder dich schlagen oder alles zusammen. Das warme Licht, dass aus dem Garten dringt, umhüllt sein Gesicht, durchflutet sein goldenes Haar mit seinen Strahlen, hebt die Konturen seines Kiefers und seine Wangenknochen hervor, die geschwungenen Lippen, die dichten Wimpern. Meine Augen brennen. Sie sind staubtrocken, keine Träne wagt es sie zu benetzen. Gib ihm die Chance, die er verdient hat. „Ich liebe dich. Und ich möchte, dass du meine Frau wirst und als Siegerin aus dieser Selection herausgehst. Beende das hier." Die Selection. Dieses verdammte Traumkonstrukt. Ich höre Stimmen von draußen hereindringen. Vier andere, ganz wunderbare Mädchen, die allesamt verdient hätten, dass ein Märchen für sie wahr werden würde. Die alle so viel mehr verdient hätten als das hier. Henrys Hand in meiner ist so warm, so zärtlich, so weich, dass sie meine zerreißt. Da ich nicht antworte, sondern ihn nur anstarre wie eine Puppe, redet Henry weiter. „Du wirst die perfekte Königin, glaube mir. Das Volk wird dich genauso sehr lieben wie ich. Du wirst diesem Land zu Sicherheit, Wohl und Reichtum verhelfen und mein Leben mit jeder Sekunde an meiner Seite bereichern." Mir wurde klar, dass du nicht nur für ihn die beste Wahl wärst, sondern auch für das Königreich. Und es brach mir das Herz, als er mir sagte, er würde dich zu seiner Frau machen wollen. Ich schmecke Galle auf meiner Zunge. Meine Sicht verschwimmt. Dunkle Flecken tanzen vor meinen Augen. Ich werde das hier beenden. Ich muss hier weg. Instinktiv rutsche ich ein Stück zurück. Ich sehe nichts als Daniel vor mir. Ein verzerrtes Bild von ihm, bei dem irgendetwas nicht stimmt. Die Nase, die Augen, der Mund, die glatt rasierten Wangen, das goldene Haar, jede Falte, jeder Fleck, jede Unebenheit. Alles ist Daniel und alles ist falsch. Es tut mir leid, Daniel. Aber ich kann das nicht. Ich könnte das niemals. Es ist mir egal, ob ich gut für ihn wäre. Es ist mir egal, ob du glaubst, dass ich mit dir keine Zukunft habe. Er ist nicht du. „Was ist los mit dir, meine Liebe?" Ich bin nicht deine Liebe. Und ich kann das nicht. Du hast mir nichts getan. Du warst gut zu mir. Aber du bist nicht er. Ich muss mit Lillian reden. „Mein Prinz, mich ehrt euer Antrag sehr", sage ich und bin selbst davon überrascht, wie fest und unerschütterlich meine Stimme klingt. Noch lächelt Henry glücklich und selbstsicher. „Aber ich muss ihn leider ablehnen." Sein Gesicht entgleitet. Er fasst sich wieder und streichelt meine Hand mit seiner freien. „Wie gesagt, ich kann verstehen, wenn du Bedenkzeit brauchst, es..." „Nein", unterbreche ich ihn entschlossen. „Ich kann nicht eure Frau werden und ich werde es nicht." Er blinzelt verwirrt den Boden an, also spreche ich weiter: „Ihr seid ein wundervoller Mensch und ich wünsche euch alles Glück der Welt." Ich hoffe, er ist wirklich ein wundervoller Mensch. Ich hoffe, dass Chloe und Sydney gemeinsam die Selection verlassen werden und dass Renée sich schnell in ihre Rolle als Königin einfinden und Henry ihr ein guter Ehemann sein wird. „Aber in der Zeit hier ist mir klar geworden, dass es mir nicht möglich ist, Euch auf diese Weise zu lieben. Und ich hege auch absolut nicht den Wunsch Königin zu werden." Seine Nasenflügel weiten sich beim Einatmen. Er sieht anders aus als vorher. Gar nicht mehr wie Daniel. Als hätte sich etwas bewegt. „Du weißt nicht, was du da sagst", meint er und verzieht das Gesicht zu einem grotesken Lächeln. Sein Griff um meine Hand wird fester, aber ich glaube, dass er es selbst gar nicht bemerkt. „Du bist eine Königin. Die perfekte Königin. Du verdienst, es diese Selection zu gewinnen. Dich überkommen bestimmt gerade nur Zweifel, weil..." Erneut unterbreche ich ihn und stehe auf. „Nein, absolut nicht. Ich bin mir meiner Entscheidung vollkommen bewusst." Er sieht zu mir auf. Es sieht albern aus, wie edel er dort hockt. Es hätte ein perfekter Moment werden sollen, ein wundervoller Antrag. Jedes andere Mädchen hätte ihn wahrscheinlich sofort angenommen. „Es tut mir wirklich leid. Aber das mit uns", ich schlucke schwer, „war für mich ein kostbares Geschenk und ich werde es auf ewig in Ehren halten." Ironisch, dass mir dieser Satz aus Daniels Brief ausgerechnet jetzt in den Sinn kommt. Henrys Gesicht sieht aus wie versteinert. Als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Keine Ahnung, was in ihm vor sich geht. Er steht gefasst auf. Seine Ruhe macht mir etwas Angst. Sein Blick ist kalt und hart. Kein Muskel zuckt. Ich strecke den Rücken durch und sehe in seine blauen Augen mit dem gelben Ring. Auf einmal erinnern sie mich an Eis. Er tritt ein paar Schritte auf mich zu. Ich strecke den Rücken durch und begegne ihm mit Stolz, aber ich muss doch zugeben, dass die Luft so dick ist, dass ich sie greifen kann und dass er mir Angst macht. Er streckt seine Hand aus und ich zucke fast unmerklich zusammen, weil ich beinahe glaube, dass er mich schlagen möchte. Aber das tut er nicht. Er streicht über meine Wange und hebt mein Kinn an. Besitzergreifend. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Seine Augen sind so klar und schneidend wie ein frisch poliertes Messer. Ich kann mich nicht erinnern, Daniel jemals mit so einem Blick gesehen zu haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Daniel so einen Blick haben kann. Mächtig. Wie ein Raubtier. Der Ansatz eines schiefen Lächelns umspielt seine Lippen. Wer ist dieser Mann? Er zieht langsam seine Hand weg, ich spüre jeden Millimeter, die sie sich bewegt. Er schreitet geschmeidig an mir vorbei. Jeder seiner Muskeln ist unendlich kontrolliert. Ich blicke über meine Schulter. Er geht, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich atme erst auf, als ich ihn nicht mehr sehen kann. Was ist gerade passiert? Ich höre ein Klacken, aber nicht von Henrys Schuhen. Höhere Absätze. „Georgie", sagt jemand hinter mir, kaum mehr als ein Hauchen. Ich drehe mich um. Diesen Ausdruck habe ich noch nie in Lillians Gesicht gesehen. Hat sie das gerade alles mit angehört? Mit strammen Schritten geht sie auf mich zu und greift mein Handgelenk. „Komm, lass uns..." „Prinzessin Lillian!" Sie bleibt stehen und seufzt mit unterdrückter Wut. Ich bin viel zu beschäftigt, all das hier zu verarbeiten, um mir auch nur auszumalen, was in ihr wohl vor sich geht. Sie hat wieder diesen Gesichtsausdruck. Den, den ich gesehen habe, als ich sie heimlich mit Markus beobachtet habe, der einem einen kalten Schauer über den Rücken jagt. „Prinzessin Lillian, die Siegerehrung und die Interviews beginnen gleich." Es ist Carl, der Moderator. Lillian lässt mein Handgelenk schnell los und verschränkt königlich die Hände vor dem Schoß. Als wenn nichts gewesen wäre. „Selbstverständlich." Carl bemerkt mich und lächelt mich empathisch an. „Lady Georgie, ich denke, es ist am besten, wenn sie sich auf ihrem Zimmer ausruhen. Wir teilen Ihnen die Ergebnisse im Anschluss mit." Ich lächle ebenfalls und nicke. Ich weiß eh, dass ich nicht gewonnen habe, und es wäre auch das letzte, was ich gerade wollen würde. „Wo ist...?", will Lillian mich nach Atreju fragen, aber beantwortet die Frage selbst in Gedanken. Sie wendet sich an Carl: „Carl, können Sie bitte nach Officer Princeton rufen lassen? Er wurde weggeschickt, um etwas für Georgie zu holen, aber sollte Sie nun besser auf Ihr Zimmer bringen. Er kann nicht weit sein." Carl nickt. Charmant führt er mich den Flur entlang. Über die Schulter sehe ich, wie Lillian tief einatmet und dann wieder nach draußen geht. „Wie geht es Ihnen?", fragt Carl höflich. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich außerhalb des Berichts mit ihm rede. Er sieht wirklich gut aus, wie aus einem Klatschmagazin. Aber ich stelle gerade fest, dass er mir wesentlich besser gefällt, wenn er nicht sein Moderatorenlächeln aufgelegt hat. Er wirkt irgendwie jünger dadurch. „Danke, es geht schon. Immer nur noch ein bisschen geschockt." Ich ringe mit den Händen. Meine Handflächen sind schweißnass und eiskalt. „Sie müssen große Angst gehabt haben." Er sucht meinen Blick. „Oh...", die habe ich ehrlich gesagt immer noch. „Ich habe gar nichts richtig mitgekriegt." Ich seufze tief. „Es ging alles so schnell." Er nickt mehrmals verstehend. „Sie sind eine wirklich bewundernswerte Frau, wissen Sie das?" Ich sehe ihn überrascht an. Zuerst habe ich Angst, dass sich schon wieder ein Mann aus unerklärlichen Gründen für mich interessiert, aber sein Blick wirkt vor allem einfühlsam. Ich atme auf und bin mir nicht sicher, was ich darauf antworten soll. „Bei all diesem ganzen Tumult hier, haben Sie sich nie unterkriegen lassen. Sie haben sich nie beeinflussen lassen und waren durchweg immer einfach offen, freundlich und ehrlich. So etwas sieht man selten." Er lockert seinen Nacken. Ich frage mich, ob er in seiner Position eine große Anspannung fühlt. „Ehrlich gesagt, habe ich immer gehofft, dass Sie Königin werden würden." Nicht er auch noch. Ich verdrehe fast unmerklich die Augen. „Aber ehrlich gesagt, habe ich auch immer gedacht, Sie es nicht annehmen würden, wenn man es Ihnen anbieten würde." Ich bleibe stehen. Hatte er die Unterhaltung eben auch mit angehört? War das gut oder eher ganz furchtbar? „Ich habe Ihnen sehr gewünscht, dass Sie und Daniel glücklich werden. Aber in dieser grausamen Welt ist das wohl nicht so möglich." Oh mein Gott. „Woher wissen Sie...?" Er lächelt schief und ein Grübchen bildet sich auf seiner rechten Wange. „Ich bin ausgebildeter Schauspieler. Ich verstehe mich darauf, Menschen genau zu beobachten. Und ich erkenne Nachahmung, wenn ich Sie sehe, egal wie gut sie gemacht ist." Vielleicht hätten sie ihn lieber bei der Polizei oder so einstellen sollen. Er steckt die Hände in die Hosentaschen. „Und Daniel ist ehrlich gesagt auch so ein besonderer Mensch, dass ich auch so bemerkt hätte, ob er vor mir sitzt oder nicht. Wenn man Leute interviewt, merkt man, wie sie sprechen, wie sie sich bewegen und auch was hinter ihren Augen vor sich geht." Ich bin ernsthaft tief beeindruckt. Es war natürlich klar, dass Carl nicht nur eine leere Hülle ist. Aber es ergibt natürlich Sinn, dass er als Moderator des Berichts mehr mitkriegt und durchschaut als viele andere hier. „Ich mag Daniel sehr gerne. Und Sie mag ich auch sehr gerne. Und ich weiß, dass Ihre Entscheidung von Herzen kam und damit die richtige war. Also wenn Sie Daniel suchen gehen", er läuft um mich herum, da wir um die Ecke müssen und deutet mir weiterzugehen, „was ich, wenn ich Sie richtig einschätze, vermute, dann grüßen Sie ihn von mir. Sagen Sie ihm, dass ich euch beiden nur das Beste wünsche. Und wenn ich irgendwie helfen kann..." Ich sehe Atreju am Ende des Flures stehen und Carl spricht etwas leiser und verschränkt die Arme professionell hinterm Rücken. „Zögern Sie nicht meiner Agentur zu schreiben. Sagen Sie, Sie wären meine rothaarige Freundin. Sie werden dann denken, Sie wären irgendeine Affäre von mir und Sie sofort weiterleiten." Völlig verblüfft sehe ich Carl an und bleibe stehen. Warum tat er das für mich? Einfach nur aus Sympathie? Mir gegenüber? Daniel gegenüber? Ich frage mich, ob sie sich je außerhalb vom Bericht unterhalten haben. „Dankeschön." Atreju deutet eine leichte Verbeugung an. Er dachte bestimmt, ich hätte mich für das Herbringen bedankt. Carl verbeugt sich ebenfalls, dreht sich um und richtet im Gehen seinen Anzug für seinen Auftritt. Dieser Tag ist eindeutig zu viel für mich. „Du siehst müde aus", stellt Atreju fest. Ich fahre mir über die Augen. „Du hast ja keine Ahnung." Die Lichter des Gartens sind nicht mehr zu sehen. Nur der Mond wirft seine leuchtend weißen Strahlen durch die riesigen Fenster, die ich immer so gemocht habe. Sie haben irgendwie etwas tröstliches. Als wäre das Tor zur Außenwelt nicht ganz verschlossen. Ein Anker zur Vergangenheit vor diesem ganzen Wahnsinn. „Wie spät ist es?", frage ich. Atreju sieht auf seine Armbanduhr. „Gegen 10. Du musst morgen gegen 8 Uhr beim Frühstück sein." Ich hoffe, ich werde in dieser Nacht schlafen können.
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Selection- Der versteckte Prinz
FanfictionDies ist eine Fanfiction basierend auf der „Selection" Reihe von Ciara Kass. Es spielt lange nach den Geschehnissen der Buchreihe, weshalb ich ihre Bücher und Charaktere kaum einbauen werde. Die fiktive Welt ist frei nach der ihren gestaltet. Dadurc...