Kapitel 11: Robert

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Was genau hat das zu bedeutet? Ist dieses Treffen offiziell oder inoffiziell? Nachdem ich mir fünf Minuten auf der Toilette den Kopf zerbrochen habe, ohne irgendein wirkliches Ergebnis, verlasse ich das Bad wieder. „Ist wirklich alles in Ordnung, Georgie?", fragt mich dieses Mal Lana mit einer besorgten Miene. „Ja, ja alles gut. Wirklich", versichere ich. „Ich glaube, das Frühstück ist mir nicht ganz so gut bekommen. Am Besten mache ich einen kleinen Verdauungsspaziergang. Dann kann ich auch gleich ein bisschen das Schloss erkunden." Ich muss dringend auf andere Gedanken kommen. Bis heute Abend ist es noch lange hin. Und es bringt nichts, sich jetzt schon den Kopf über das Treffen mit Henry zu zerbrechen. Nachdem ich die Einverständniserklärung von Mia und Lana bekommen habe, gehe ich nach draußen. Garrett steht vor der Tür. Den hatte ich ganz vergessen. „Huch, schon wieder auf Zack?", fragt er. Ich mühe mir ein fröhliches Lächeln ab. „Ich würde gern das Schloss ein Bisschen erkunden. Du kannst mir doch bestimmt eine Führung geben?" „Na klar. Was würdest du gerne sehen?" Ich überlege. „Gibt es hier eine Bibliothek?" Als Garrett dies bejaht, machen wir uns auf den Weg. Ich bin erstaunt, wie viel Garrett über das Schloss weiß. Er redet so enthusiastisch, dass ich das Gefühl habe, er würde mich gar nicht mehr richtig bemerken. Er hätte lieber Architekt anstatt Wache werden sollen. Was mich persönlich viel mehr interessiert als die Architektur des Schlosses, sind die Unmengen von Bildern an seinen Wänden. Bei einem bleibe ich stehen. „Maxon Schreave I.", steht auf einer kleinen goldenen Tafel neben ihm. Hm. Das ist also der Mann, über den meine Mutter gerade einen Film dreht. Der Mann, der das Kastensystem abgeschafft hat. Henrys Vorfahre. Abgesehen von dem blonden Haar sehen sie sich nicht sehr ähnlich. Und doch irgendwie schon. Henrys Kopfform ist anders. Ein bisschen kantiger als die von Maxon. Und seine Nase ist anders. Aber sie haben ähnliche Augen. Auch wenn Maxons braun sind und Henrys blau, strahlen ihre Augen beide auf die gleiche Weise. Ob Henry auch eines Tages so ein großer König wie Maxon werden wird? Ich drehe mich zur Seite. Mist! Garrett ist weg! Ich sprinte um die Ecke, wobei ich in Gedanken Henry erneut für die bequemen Ballerinas danke. Nach drei weiteren Gängen bin ich mir sicher, dass Garrett weg ist. Wie lange habe ich auf dieses Bild gestarrt?! Ganz ruhig, Georgie. Garrett meinte vorhin, dass die Bibliothek nicht mehr weit weg ist. Du musst also nur die Bibliothek finden, dann findest du auch Garrett wieder. Hoffentlich kriegt er keinen Ärger, wenn er ohne mich gesehen wird. Ich irre durch die nicht enden wollenden Flure. Bin ich nicht inzwischen schon ein Bisschen zu weit gelaufen? 

Hier war ich noch nie. Und es sieht auch irgendwie anders aus als die restlichen Teile des Palastes. Vielleicht klingt das komisch, aber es wirkt irgendwie... steriler. Ich sehe keine Pflanzen und kein einziges Staubkörnchen auf dem hellen Parkettboden. Die Wände sind mit einer hellblauen Stofftapete überzogen, auf der kleine Blumen abgebildet sind. Wenn mich nicht alles täuscht enthält sie alle Blumen der verschiedenen Provinzen Illéas. Auch hier hängen Bilder, aber nicht Portraits, wie in den anderen Fluren, sondern vor allem Gemälde. Gemälde von Orten. Ein Schiff in einem Sturm auf hoher See. Der Dschungel. Eine Wüste. Irgendwann, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben habe, entdecke ich ein Schild neben einer Tür auf dem in geschwungener Schrift „Bibliothek" steht. Na endlich! Ich öffne vorsichtig die dunkle Holztür. Oh. Mein. Gott. Das ist das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen habe! Die Bibliothek ist gigantisch. Sie erstreckt sich über zwei Etagen, die durch einer gewaltige Wendeltreppe miteinander verbunden sind. Die obere Etage hat etwas balkonartiges an sich. Sie besitzt das gleiche schwarze, geschwungene Metallgeländer wie die Wendeltreppe. Ich fahre mit der Hand über die Buchrücken. „Der Urfaust von Goethe, Faust I. von Goethe, Faust II. von Goethe, Faust von Marlow" Das hier muss „F" sein. Die Bibliothek ist unglaublich gut organisiert. „Na? Schon wieder ausgelesen?" Die Stimme kommt von oben. Ein alter Mann steht hinter dem Geländer. Sein graues Haar steht in alle Richtungen ab. Er trägt eine dicke Hornbrille, durch die seine Augen riesig wirken, und hat einen geschwungenen Schnauzer. Er wirkt zuerst überrascht und dann leicht verärgert. „Entschuldigung?", fragt er empört. „Wer bitte sind Sie?" Ich bin zuerst leicht eingeschüchtert, aber das war nur durch den Schreck. „Oh, Verzeihung. Mein Name ist Georgina. Ich bin eine der Erwählten." „Die Erwählten haben hier nichts zu suchen", meint der Mann kalt. „Dies ist die persönliche Bibliothek des Prinzen. Es ist Ihnen nicht erlaubt, den Diamenten-Flügel zu betreten." Bei seinen ersten Worten wirkte der Mann noch so nett. Er stellt einige Bücher in die Regale. Das ist also Henrys PERSÖNLICHE Bibliothek? Augenblicklich bin ich neidisch. „Es tut mir wirklich leid", versichere ich dem Mann. „Ich habe die normale Bibliothek gesucht und mich dabei irgendwie verlaufen." Er wird hellhörig, dreht sich um und zieht eine Augenbraue hoch. „Sie haben die Bibliothek gesucht?" Ich nicke. „Ja." Er mustert mich. „Wie war Ihr Name noch gleich?" „Georgina", meine ich unsicher, „wenn Sie wollen auch Georgie." Seine Augen beginnen zu funkeln und er geht in einem Tempo, dass ich ihm nicht zugetraut hätte, die Treppe herunter. Er stellt die Bücher, die er trug, auf einem kleinen runden Tisch ab, an dem ein paar Stühle stehen. Der ist mir noch gar nicht aufgefallen. Sieht aus wie zum Teetrinken oder so. Der Mann kommt auf mich zu und schüttelt überschwänglich meine Hand. „Sie sind Georgina Gardener aus St. George! Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen! Ich habe ihr Vorstellungs-Video beim Blog der Erwählten gesehen und ich muss sagen: Ich war hin und weg! Jeder, der Umberto Eco zitiert, hat mich auf seiner Seite!" Ich muss mir verkneifen zu lachen. Das war ein ganz schöner Sprung. Der Mann lässt meine Hand los. „Mein Name ist Robert. Ich bin der Bibliothekar dieser Bibliothek. Meinetwegen können Sie sich so viel ausleihen, wie Sie wollen. Es gibt hier zwar nicht so viele Bücher wie in der Hauptbibliothek des Schlosses, dafür aber seltenere." Robert eilt zu dem Bücherstapel und kommt anschließend im gleichen Tempo zu mir zurück und drückt mir ein altes Buch in die Hand. „Das Schwert der Wahrheit", lese ich vor. Er nickt stolz. „Eine unserer neusten Anschaffungen. Es ist eine mehrbändige Fantasy-Saga. Das hier ist die Erstausgabe." Meine Augen werden groß. „Erstausgabe?!" Er nickt. Ich blättere durch das Buch. „Das Buch ist mindestens vierhundert Jahre alt und in so einem guten Zustand!" „Haben sie die Bücher schon einmal gelesen?", fragt Robert. „Ich habe von ihnen gehört, aber selber gelesen habe ich sie noch nicht, nein." „Dann nehmen sie es ruhig mit!" Ich sehe zu ihm auf. „Was?" „Lesen Sie es nur! Der Prinz hat bestimmt nichts dagegen." Ich merke, dass es keinen Zweck hat, mit Robert zu diskutieren, deshalb drücke ich einfach glücklich das Buch fest an meine Brust und sage: „Vielen Dank." „Keine Ursache", erwidert Robert und untersucht zufrieden die anderen Bücher auf dem Tisch. „Wo ist eigentlich Ihre Wache?", fällt ihm dann auf. Ach stimmt ja, Garrett. Ich lächle peinlich berührt. „Wahrscheinlich in der anderen Bibliothek...?" Robert schmunzelt verstehend und geht dann zur Tür. „Ich werde Sie hinbringen." Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln. Ohne ihn wäre ich jetzt wahrscheinlich komplett verloren. 

Auf dem Weg versuche ich, Robert ein bisschen über Henry auszufragen. „Also... Der Prinz liest wohl auch sehr gerne?" Robert sieht überrascht aus. „Ja, wie haben Sie das erraten?" Ich ziehe ungläubig eine Augenbraue hoch. „Naja, er hat eine persönliche Bibliothek, die mehr als gut ausgestattet ist. Außerdem hat er es mir auch in einem unserer Gespräche erzählt." „Ach so." Robert scheint mir ein bisschen verpeilt zu sein. Aber ansonsten wirkt er sehr nett. „Der Prinz tut eigentlich so gut wie nichts anderes. Er ist eine richtige Leseratte." Robert muss bei dem Gedanken lächeln. „Er war immer recht einsam, durch die Sicherheitsvorschriften durften nicht viele zu ihm." Wow. Der König und die Königin haben noch mehr Angst vor diesen Rebellen, als ich vermutet habe. „Die Bücher wurden zu seinen Freunden und haben ihm Zuflucht geboten." Wie poetisch. Ich sollte das in meine Geschichte einbauen. Da fällt mir auf, dass Sie noch gar keinen Namen hat. Ich sollte mir später mal einen überlegen. „Was ist sein Lieblingsbuch?", will ich wissen. „Ernst sein ist alles", meint er. Meine Augen werden groß. „Von Oscar Wilde?" Er nickt. „Es wundert mich, dass Sie es kennen. Allerdings sollte es das, glaube ich, nicht. Was ist Ihr Lieblingsbuch?" „Eine Geschichte zweier Städte von Charles Dickens", meine ich. „Oh, dann haben Sie und Prinz Henry etwas gemeinsam. Sie mögen beide alte englische Literatur." „Sieht so aus", bestätige ich ihn lächelnd. Diese Erkenntnis macht mich mehr als glücklich. Er bleibt plötzlich stehen. „Hier sind wir. Sie waren also gar nicht so weit weg." Ich öffne die Tür zur Bibliothek. Sie ist sogar noch größer als Henrys. Dennoch strahlt sie irgendwie nicht so eine gemütliche Wärme aus wie seine. Garrett sprintet zwischen den Bücherregalen hervor. „Georgie! Es tut mir so leid! Du darfst nie wieder weglaufen, am Ende verlier ich sonst meinen Job! Ich hätte besser aufpassen müssen. Wer ist das?" Er deutet auf Robert. „Ein guter Freund", erkläre ich. „Er hat mir den Weg hierher gezeigt." Robert nickt und wendet sich dann an mich. „Ich werde dann mal zurückgehen. Die Arbeit ruft. Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Lady Georgie. Sollten Sie mal etwas bestimmtes an Lektüre in dieser Bibliothek nicht finden können, denke ich nicht, dass der Prinz etwas dagegen hat, wenn Sie mich einmal besuchen kommen." Er zwinkert mir zu. Ich schmunzle. „Haben Sie vielen Dank. Auf bald, Robert." Er verabschiedet sich noch von Garrett und verlässt uns anschließend. „Wo warst du?", fragt Garrett. „In der falschen Bibliothek. Dieses Schloss ist aber riesig." „Ich komme mir so dumm vor, weil ich nicht gemerkt habe, dass du weg warst." „Ach, keine Sorge", versuche ich ihn zu beruhigen, „Ist nicht schlimm. Ich habe ja genau so wenig gemerkt, dass du weg warst. In Zukunft achten wir einfach besser aufeinander. Dieses Mal ist es ja noch gut gegangen. Zum Glück wurde ich von keinen blutrünstigen Paparazzo gefunden." Garrett schmunzelt ein wenig. „Na gut, dann kannst du jetzt nach einem Buch suchen", schlägt er vor. „Oh, ich habe schon eins!" Ich deute auf „Das Schwert der Wahrheit" in meinem Arm. „Robert hat es mir gegeben." „Na gut", sagt Garrett, „Dann können wir, wenn du willst, zurück zu deinem Zimmer." „Ich würde vorher gerne noch einen Abstecher machen." Einen wichtigen Abstecher. „Wo ist die Tür, die in den Garten führt?"

Selection- Der versteckte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt