Kapitel 36: Zeit zum Handeln

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Triggerwarnung: Dieses Kapitel thematisiert sexualisierte Gewalt. Wenn du ein Opfer sexualisierte Gewalt wurdest oder eines kennst, scheue dich nicht, Hilfe zu suchen. Eine anonyme, kostenfreie und 24 Stunden erreichbare Beratungsstelle ist:  (Tel.: 0800 116 016) (Das Hilfetelefon des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben richtet sich in erster Linie an Frauen, da dies ein Thema ist, von dem Frauen leider noch viel häufiger betroffen sind als Männer. Dies heißt jedoch nicht, dass sich als männlich identifizierende Personen nicht auch Opfer sexualisierte Gewalt sein können. Hier sind die Beratungsstellen allerdings regionaler. Für Berlin ist dies die:  (Tel.: (030) 236 33 978))


(Tut mir leid, dass es zum Jahresende so ein düsteres Kapitel gibt, aber wir sind nun Mal leider gerade an diesem Punkt der Story. Ich hoffe es geht euch allen gut und, dass ihr schöne, besinnliche Weihnachtsfeiertage verbracht habt (Solltet ihr Weihnachten gefeiert haben. Wenn nicht hoffe ich trotzdem, dass diese Tage für euch schön waren!) Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch und ein gesundes und glückliches neues Jahr! Liebe Grüße, eure Fillili)

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Ich wache neben Renées Bett auf. Sie schläft noch. Die Ärzte haben behauptet, sie wäre von Rebellen überrascht worden und haben mir keine genauen Details über ihre Verletzungen genannt, aber ich weiß genau, was passiert ist. Mein Magen krampft sich zusammen. Aus dem Fenster sehe ich die aufgehende Sonne. Atreju müsste jetzt bald mit Garrett wechseln. Er sah gestern völlig verstört aus. Wer kann es ihm verübeln? Ich habe ihm und Meghan alles erzählt, nachdem der Arzt weg war. Ich wollte eigentlich so wenig Leute wie möglich hier reinziehen, aber das erscheint mir jetzt sinnlos. Es ist zu viel passiert und zu viele Menschen mussten bereits leiden, um es weiter zu verschweigen. Sie sind beide berechtigterweise aufgebracht und besorgt gewesen, aber hatten mir sofort geglaubt. Ich weiß nicht, ob ich das getan hätte, und es ehrt mich sehr. Meghan stellt Tee und etwas Porridge auf den Tisch neben Renées Bett. Sie ist mucksmäuschenstill, um Renée nicht zu wecken, aber jedes Mal, wenn sie sie ansieht, bekommt sie einen Ausdruck, als würde sie einen Plan aushecken, Henry eigenhändig auf der Stelle umzubringen. Sie lächelt mich im Vorbeigehen schwach an und streicht mir sanft über die Schulter. Dann geht sie wieder. Atreju hat mir, nachdem ich gesagt habe, dass ich so lange wie möglich bei Renée bleiben möchte, ein paar Bücher und meinen Laptop vorbeigebracht. Ich versuche mir alles von der Seele zu schreiben, helfen tut es aber nicht. Der Gedanke, dass ich es nicht einmal als Zeugenaussage verwenden könnte, da niemand dem Kronprinzen von Illéa etwas anhaben würde, tut unfassbar weh. Ich klappe den Laptop zu und lege ihn zur Seite. Ich bin schrecklich müde, habe schon wieder kaum schlafen können. Ich bin wütend. Irgendwie enttäuscht. Und vor allem fühle ich mich auch seltsam schuldig. Ich werde die Gedanken nicht los, dass Renée das vielleicht erleiden musste, weil ich Henry abgewiesen habe, oder dass ich es in irgendeiner Weise hätte verhindern können, wenn ich allen Mädchen die Wahrheit über Henry gesagt hätte, wenn ich früher gehandelt hätte. Ich denke an Renée, wie ich sie als wimmerndes Häufchen Elend auf dem kalten Boden des Flures gefunden hatte. ‚Ich weiß nicht, warum ich nicht irgendetwas getan habe. Treten, beißen, keine Ahnung. Ich lag einfach nur da wie ein totes Stück Fleisch.' Galle kommt mir hoch, aber ich schlucke sie herunter. Ob ich etwas hätte tun können, ist egal. Ich kann es nicht wissen. Henry hat Renée das angetan und es gab nichts, womit ich ihr hätte helfen können, nichts, wodurch ich es ungeschehen machen könnte. Auch wenn ich mir absolut nichts mehr wünschen würde als das. Ein Mädchen tot und eines geschändet. Ob die anderen Auswahlen genauso verlaufen waren? Renée regt sich. „Georgie...?" Ich springe auf und wechsle auf den Stuhl neben ihrem Bett. „Ja, ich bin hier." Ich bemühe mich, ihr das beruhigendste Lächeln zu schenken, das ich zustande bringen kann, und es scheint zu wirken, denn sie lächelt schwach zurück. „Du bist die ganze Nacht bei mir geblieben?", fragt sie. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Es ist ja wahr, aber ich will gleichzeitig nicht, dass sie sich schuldig fühlt oder Sorgen macht oder dergleichen. Schließlich nimmt sie mir die Antwort ab, indem sie: „Danke", sagt. Ich senke den Blick. An ihrer Schulter und ihren Armen kleben Pflaster. Der Arzt hatte Creme auf die großen Blutergüsse geschmiert und sie abgedeckt. „Ich werde nächste Woche oder so dieses Date mit ihm haben", meint Renée. Ich sehe auf. „Das ist nicht dein Ernst, oder?" Sie starrt zur Decke. Ich lege meine zweite Hand auf ihren Arm. Es macht mich wahnsinnig, dass sie mich nicht ansieht. „Einen Scheiß wirst du! Sobald es dir besser geht, wirst du die Selection verlassen! Du solltest keine Sekunde mehr in seiner Gegenwart verbringen müssen!" „Und was passiert, wenn ich gehe?" Es sieht aus, als würde sie Bilder an der Wand sehen von den Dingen, die waren und sein würden. Aber sie sieht nicht verwirrt oder gar abwesend aus, sondern mit vollkommen klarem Verstand und hellwach. „Eine von euch würde ihn heiraten müssen. Und keine von uns hat das verdient. Wir müssen die Selection so lange wie möglich herauszögern." Ich weiß besser als jede andere, dass sie damit Recht hat. Aber es gefällt mir absolut nicht. „Und was dann? Wie sollen wir diese Situation lösen?", frage ich sie und mich selbst. „Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen." Jetzt sieht sie mich doch an. Ihr Blick ist nicht wertend und nicht abschätzend. Aber es ist dennoch unmöglich ihm auszuweichen „Georgie." Jetzt legt sie ihre Hand auf meine, fast, als wäre ich die, die Unterstützung und Kraft bräuchte. Womit sie wahrscheinlich Recht hat, denn mein eigener Herzschlag hämmert unaufhörlich in meinen Ohren und meine Hände sind eiskalt. „Was genau ist hier passiert?" „Ich...", stammle ich. Sie verdient es, es zu wissen. Sie verdient zu wissen, dass es nicht Daniel gewesen war, der ihr das angetan hatte. „Henry hat dir mehr vertraut als uns anderen, das war von Anfang an klar", überlegt sie. Jeder Muskel in meinen Körper ist angespannt, wie ein Tier, das sich totstellt. „Du musst verwirrt sein, geschockt von ihm, immerhin standet ihr euch so nah. Aber du hast, seit du mich gefunden hast, nicht ein Wort darüber gesagt." Ich möchte ihr alles sagen. Ich muss ihr alles sagen. Aber ich kann nicht. Meine Zunge ist so schwer wie Blei und meine Lunge will sich nicht richtig mit Luft füllen. Ihre dunklen Augen bohren sich in mich. „Im Gegenteil. Schon seit Henry sich von seiner Krankheit erholt hat, wirktet ihr beide viel distanzierter als vorher..." Vielleicht muss ich es ihr gar nicht sagen. Vielleicht kann sie es sich selbst erschließen. Ich kann nicht sprechen. Der Geruch von Desinfektionsmittel in der Luft erwürgt mich. Ich muss hier raus. Ich kann mich nicht bewegen. „Ich mochte ihn wirklich immer sehr. Er war zuvorkommend, freundlich, schien sich immer wirklich ernsthaft für einen zu interessieren und wollte keiner von uns das Gefühl geben, fehl am Platz zu sein. Er hat uns auch keine falschen Hoffnungen gemacht, weil es klar war, dass wir alle nicht du für ihn sind." „Bitte hör auf...", meine Stimme klingt gepresst, nicht mehr als ein Flüstern, die Worte unverständlich. „Und dann wirkte er plötzlich wie ausgewechselt." „Weil er es nicht ist!", denke ich. „Sag es ihr, du dumme Kuh! Jetzt ist deine Chance! Sag ihr, weil er es nicht ist!" Die Tür öffnet sich. Ich fahre hoch, als wäre ich unsanft geweckt worden und greife schneller als man bis drei zählen kann die Serviette neben dem Porridge, um mir über das ganze Gesicht zu wischen. Renées und mein Blick treffen sich. Ist das in ihren Augen etwa... Mitleid? Wieso sollte sie Mitleid mit mir haben, wo sie doch diejenige ist, der ein Verbrechen angetan wurde. „Guten Tag die Damen", beim Klang von Henrys Stimme greift Renée mit beiden Händen nach meinen. Ich lächle zu Henry auf. Er bleibt stehen. „Oh." In seiner Hand hält er ein Blumenbouquet, das ich ihm am liebsten gegen den Kopf schlagen würde. Er legt es auf dem Bett neben Renée ab. „Lady Georgie, haben sie etwa die ganze Nacht bei Renée verbracht?" Ich ziehe das letzte bisschen Schnodder nach oben und meine entspannt: „Ich habe mir so Sorgen um sie gemacht." Jetzt habe sogar ich Angst vor mir. Wann habe ich das gelernt? Meine Hände zittern fast noch mehr als Renées, aber meine Haltung und meinem Gesicht sieht man absolut nicht an, dass ich gerade noch einen vollkommenen Zusammenbruch hatte und mit der Person rede, die ich mehr als alles andere verabscheue. Als wäre ein Schalter in mir umgelegt worden. „Verstehe." Henry nickt mitleidig. Er stellt sich neben Renées Bett und streichelt ihr mit dem Handrücken über die Wange. Sie zuckt fast unmerklich zusammen und presst meine Hände fester, aber sonst ist keine Regung in ihrem Ausdruck zu sehen. „Es tut mir wirklich leid, dass sie verletzt wurden, Lady Renée. Ich fasse es nicht, dass Ihre Wache es nicht geschafft hat, richtig auf Sie aufzupassen-" „Jasper hat nichts damit zu tun!", unterbricht Renée Henry und sieht stolz zu ihm auf. Ich könnte sie umarmen. „Ich bin ihm davongelaufen. Ich war so glücklich, dass ich das nächste Date gewonnen habe, dass ich eine triumphale nächtliche Joggingrunde machen wollte." Ihr Lächeln und ihre Augen sind eiskalt und herausfordernd. Das ist schon viel mehr die Renée, die ich kenne. Als würde sie versuchen, ihre Macht, die sie verloren glaubte, zurückzuerobern. Es lag etwas Tragisches darin, aber gleichzeitig gefiel sie mir so wesentlich besser als in ihrem vorherigen Zustand, selbst wenn es vielleicht nur gespielt war. Henry steckte charmant und lässig die Hände in die Hosentasche und wenn ich nicht innerlich voll Rage über ihn wäre, hätte er mich fast an Daniel erinnert. Nur hatte seine entspannte Art und das Unwohlsein, dass ich im Vergleich zu Daniel immer bei ihm gespürt hatte, jetzt einen viel bittereren Nachgeschmack als vorher. „Die Ärzte haben gesagt, dass Sie schon morgen früh entlassen werden können und am Abend am Bericht teilnehmen dürfen. Ich verspreche Ihnen, dass wir Ihren Sieg dort gebührend feiern und Sie anschließend Ihren Preis erhalten." Er zwinkert Renée zu. Ich könnte gleich wieder anfangen zu weinen, dieses Mal allerdings aus Wut, besinne mich aber und atme tief ein und aus. Renée wendet den Blick nicht von Henry ab und meint: „Ich freue mich darauf." Wie kann sie nur so ruhig bleiben? Sie muss innerlich noch zerstörter sein als ich und doch... habe ich, glaube ich, noch nie jemand so würdevoll aussehendes gesehen. Henry nimmt den Blumenstrauß und legt ihn ihr in den Schoß, woraufhin sie meine schweißnassen Hände loslässt, um ihn festzuhalten. „Die sind für Sie", erklärt Henry, während er sich wieder aufrichtet. „Auf eine schnelle Genesung und den Sieg über diese furchtbaren Rebellen." Renée nickt. Henry schlendert genauso schnell wieder davon, wie er gekommen war. Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, starrt Renée wie eine Wachsfigur auf den Blumenstrauß in ihrem Schoß. Ohne dem Tropf, an dem sie hängt, auch nur eine Sekunde Beachtung zu schenken, steht sie auf und schleudert ihn geradewegs gegen die Wand. Ihre Nasenflügel beben und in ihren Augen lodert ein Feuer. Sie dreht ihnen Kopf ruckartig zu mir. „Georgie", meint sie und ich hefte ehrfürchtig meinen Blick auf sie, wie sie mit erhobenem Kinn über ihre Schulter auf mich sieht. „Du weißt mehr als ich. Ich weiß nicht was, aber ich weiß, dass du es tust. Du musst es mir nicht sagen, aber versprich mir nur eins", sie setzt sich auf die Bettkante und fixiert die Erde, die Muskeln in ihrem Kiefer angespannt. „Lass ihn leiden. Was auch immer er vorhat: mach, dass er nicht damit durchkommt!" „Das habe ich dir bereits versprochen. Und ich werde jetzt damit anfangen!", erwidere ich. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich das anstellen soll. Lillian. Ich muss zu Lillian gehen. Ich stehe auf und packe meine Sachen zusammen. So gern ich es auch wollte, ich kann nicht länger hier bei Renée bleiben. Ich muss etwas Proaktives tun. „Georgie?", spricht Renée mich erneut an, als ich schon auf dem Weg zur Tür bin. Ich drehe mich um. Sie lächelt schwach. „Danke." Ich lächle zurück. „Nicht dafür", meine ich und die Worte bleiben mir fast in der Kehle stecken. Renée schluckt. „Wenn das hier vorbei ist", überlegt sie, „dann würde ich mich sehr freuen, wenn wir nochmal versuchen könnten, Freundinnen zu werden, obwohl ich dir gegenüber so eine unreife Zicke war." Und obwohl ich nicht stark genug bin, dir zu sagen, was hier vor sich geht, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich blinzle, um meine verschwommene Sicht klarer zu machen. „Das würde ich mich auch." Wir lächeln einander an, ein Moment des stummen Verstehens voll unausgesprochener Worte. Sie nickt. Und ich lasse sie zurück.

Selection- Der versteckte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt