Kapitel 4: Der Prinz

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Was ist, wenn er wirklich eine große Nase hat? Oder schielt? Ohne wenn er einen komischen Sprachfehler hat? Es tut mir wirklich leid, aber ich kann lispelnde Menschen nicht ernst nehmen... Zwanghaft versuche ich, mich an die Worte des blonden Mädchens zu klammern. Er ist wirklich nett. Irgendwie beruhigt mich das tatsächlich ein bisschen. Immerhin kommt es ja doch noch am Meisten auf die inneren Werte an. Das hat man bei der Schönen und dem Biest ja gesehen! Trotzdem fände ich es natürlich besser, wenn er gut aussehen würde... Aber gute innere Werte sind das Wichtigste! Ich werde vor eine dunkle Holztür geführt. Hier hinter ist der Prinz. Oh mein Gott. Ich bin eine der ersten Bürgerlichen, die den Prinzen von Illeá zu sehen bekommt! Egal wie dieses Treffen verlaufen wird: ich werde es definitiv in meine Geschichte einbauen! Langsam und bedeutungsschwanger öffnet der Wachmann die Tür. Der Prinz sitzt mit dem Rücken zu mir in einem großen, ledernen Sessel über dessen Rand nicht mehr als seine blonden Haare zusehen sind. Er ist also schon mal blond. „Danke O'Donal. Sie können sich entfernen", höre ich ihn sagen. Seine Aussage unterstreicht er mit einer eleganten Geste. O'Donal verbeugt sich, auch wenn der Prinz ihn eigentlich nicht sehen kann, und schließt anschließend die Tür hinter sich. Diese Stimme... Woher kenne ich diese Stimme. Mir wird ein bisschen mulmig zumute, als O'Donal die Tür hinter sich schließt. Jetzt ist niemand mehr in diesem Raum, der anscheinend ein Salon ist, außer mir und dem Prinz. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich auf die Couch vor ihm zugehe. „Bitte setzen sie sich doch." Jetzt stehe ich neben dem Sofa. Irgendwie traue ich mich noch nicht so recht, mich umzudrehen. Okay Georgie. Dies ist ein historischer Moment. Zähle bis drei und dann drehst du dich vorsichtig um. Eins... Zwei... Zwei einhalb... Okay... Drei... Hoffentlich sieht er gut aus... Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Oh mein Gott... Ja er sieht gut aus, aber... Das kann doch nicht... „Daniel?!" Das klang schockierter, als es beabsichtigt war. Perplex lasse ich mich vor ihm auf das Sofa plumpsen. Das kann nicht sein. Er heißt doch Daniel? Und nicht Henry? Oder? „Ah, Georgie!", meint er erfreut. „Auf dich habe ich schon gewartet!" Er greift neben sich auf die Erde. Anschließend stellt er das schönste paar Ballerinas, das ich je in meinem Leben gesehen habe, auf den Tisch. Sie sind weiß mit goldenen Schnörkeln an den Seiten. Ich habe keine Ahnung, woraus sie sind. Können Schuhe mit Seide überzogen sein? Ich glaube nämlich, das sie es sind. Ich nehme sie vorsichtig vom Tisch und mustere sie. Die sind so edel, die traue ich mich ja gar nicht anzuziehen! Am Ende mache ich sie noch kaputt! Ich sehe zu Daniel... Henry... Wie auch immer auf. Eigentlich wollte ich mich bedanken, aber alles was ich herausbekomme, ist ein verwirrtes Quietschen, welches ihn zum Lachen bringt. Ich schlucke einmal kräftig und finde dann meine Stimme wieder. „Aber...Aber ich dachte du heißt Daniel!", meine ich und Hilfe! Klinge ich hysterisch! Er lacht erneut. „Das tue ich auch! Henry Daniel Edward William Schreave. Ich hätte dir ja gerne gesagt, dass ich der Prinz bin, aber ich durfte offiziell die Mädchen vor diesem Treffen hier nicht sehen. Ich hoffe, du verzeihst mir meine kleine Halb-Lüge." Oh nein. Mir fällt gerade auf, dass ich ihn die ganze Zeit geduzt habe. Wie konnte ich aber auch ahnen, dass er der Prinz ist?! Ich rutsche bis zum Rand der Couch. „Es tut mir wirklich leid, Euer Hoheit! Wenn ich geahnt hätte, dass..." Er winkt ab. „Alles in Ordnung. Du kannst mich ruhig weiterhin duzen. Ehrlich gesagt finde ich das wesentlich angenehmer, als dieses ewige: Ja Euer Hoheit, nein Euer Hoheit, natürlich Euer Hoheit. Auf Dauer kann das wirklich anstrengend sein. Wenn du möchtest, kannst du mich duzen und einfach Henry zu mir sagen." Er beugt sich ein Stück weiter nach vorne. „Solange niemand anderes davon erfährt, versteht sich." Er lächelt mich erwartungsvoll an. Hm. Ich hatte mir so einige Szenarien vorgestellt, wie dieses Treffen ablaufen könnte. Dieses hier war nicht dabei gewesen. Aber es gefällt mir. Ich glaube sogar, es gefällt mir besser als die anderen. Das Mädchen hatte Recht gehabt: Prinz Henry ist wirklich nett. Ich lächle zurück. „Danke. Das wäre super." Er lehnt sich zufrieden zurück, fährt dann aber sofort wieder hoch. „Oh! Möchtest du Tee? Oder Kuchen?" Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Du hast keine Bediensteten, die das Essen servieren?" Er lacht erneut. „Ich bin sehr gut allein dazu fähig, einer Dame eine Tasse Tee zu kredenzen", meint er gespielt vornehm, „Also?" Ich schmunzle und setze mich gerader hin. „Vielen Dank. Ich hätte sehr gerne eine Tasse Tee. Und diese Erdbeertörtchen sehen ganz vorzüglich aus." „Sehr wohl." Er nimmt mit einer Zange das Törtchen und platziert es behutsam auf meinem Teller, wobei er wie ein formvollendeter Butler einen Arm hinter seinem Rücken platziert. Dann nimmt er die Teekanne und gießt mir eine Tasse eine. „Danke für die Schuhe", sage ich währenddessen, „die sind wirklich wunderschön." „Keine Ursache", behauptet er und stellt die Kanne ab, „Ich habe dich auf den anderen hereinkommen sehen. Du kannst wirklich nicht darin laufen." Ich lache. „Dankeschön!", meine ich sarkastisch und dann gespielt empört, „und ich dachte immer, Prinzen wären charmant!" Er zuckt mit den Schultern. „Naja. Kommt darauf an. Wenn ich mir viel Mühe gebe, kann ich durchaus überaus charmant sein." Er musste sich keine Mühe geben. Das war er schon so. „Also", leitet er ein neues Thema ein, „erzähl etwas von dir." Ich nehme einen Schluck vom Tee und meine dann: „Was möchtest du denn hören?" Er zuckt erneut mit den Schultern. „Die anderen Mädchen haben über alles Mögliche gesprochen. Wie wäre es, mit deiner Heimatstadt und deiner Familie? Wo kommst du her?" Er lehnt sich gespannt zurück. Wie viele Mädchen hatte er jetzt schon hier zu sitzen? 4? 5? 6? Er verhält sich, als hätte er nie etwas anderes getan. Meine Anspannung von vorhin hatte er mir inzwischen komplett genommen und ich genoss jedes einzelne Wort aus seinem Mund. „Ich komme aus einem winzigen Dorf in St. George. Dort gibt es so gut wie nichts. Nicht einmal ein Kino. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir inzwischen ein Café haben. Ich habe vier jüngere Geschwister. Mein Vater ist Zahnarzt und meine Mutter ist Regisseurin." „Wirklich? Wo hat sie zum Beispiel Regie geführt?" Ich nehme einen Happen vom Kuchen. Oh Gott. Ich glaube, ich habe noch nie so etwas gutes gegessen. „Sie dreht hauptsächlich historische Filme und Dokumentionen. Ich weiß nicht... kennst du ‚Aus Asche entstand Illeá'?." Er sieht überrascht aus. „Ach. Deine Mutter ist Kathrine Eastwood?" Verwundert darüber, dass er sie kennt, lege ich die Kuchengabel auf den Teller. „Ja. Du hast von ihr gehört?" Er nickt. „Sie ist wirklich gut. Ich habe so ziemlich alles von ihr gesehen. Ich komme nicht sehr viel aus dem Palast, weißt du? Filme und Bücher sind sozusagen mein Tor zur Außenwelt." Es bedrückt ihn sichtlich, dass er nicht wie normale Bürger draußen herumspazieren kann. Der Arme. Moment... Bücher? „Bücher?", frage ich nochmal erstaunt nach und nehme erneut einen Haps Kuchen. Er ist ja so lecker. „Ja. Ich bin eine richtige Leseratte." „Wirklich?!" Ups. Erst schlucken, dann sprechen, Georgie. Also schlucke ich und rutsche weiter nach vorne. „Ich auch! Ich möchte irgendwann gerne Autorin werden! Ein Buch habe ich sogar schon geschrieben." Das letzte ist mir eher rausgerutscht. Und dann kommt natürlich die Frage, die ich befürchtet habe. „Darf ich es bei Gelegenheit lesen?" Ich weiß nicht... Niemand hat je mein Buch gelesen. Ich weiß, dass sollte es mir eigentlich nicht sein, aber es ist mir ein bisschen peinlich... So, als würde ich jemandem einen Teil meiner Seele zeigen. Er scheint meine Bedenken zu bemerken. „Du musst es mir selbstverständlich nicht zeigen, wenn du nicht willst. Tut mir leid." „Oh. Nein, nein! Das muss es nicht!", versuche ich ihn zu beruhigen, „Es ist nur... Ich weiß nicht, ob die Geschichte etwas für dich ist." Ich nehme den Kuchenteller hoch und mache mich daran, den Kuchen endlich aufzuessen. Vielleicht hoffe ich aber auch nur, dadurch nicht sprechen zu müssen... Er scheint das zu bemerken und fragt: „Worum geht es denn darin?" Er wird irgendwann König werden. Natürlich ist er gut darin, Leute auszuquetschen. Hey. Er ist nett. Er wird mich bestimmt nicht auslachen. Ich atme tief ein und stelle meinen Teller wieder hin. Dann verschränke ich die Hände in meinem Schoß und starre sie an. „Also... Es ist eine Liebesgeschichte." Erwartungsvoll und leicht ängstlich sehe ich zu ihm auf. Ich weiß nicht, wie das im Schloss ist, aber bei mir zu Hause gibt es nur Männer, die Liebesgeschichten nicht sonderlich prickelnd finden. „Eine Liebesgeschichte?", fragt er interessiert. Nein. Ich habe mich spontan umentschieden. Es ist doch lieber eine Abenteuergeschichte... Ich nicke. „Nun, ich habe nichts gegen Liebesgeschichten", meint er, was mich extrem erstaunt, „Erzähl weiter." Ich sehe wieder auf meine Hände. Irgendwie macht es mich nervös, wenn er mich so beobachtet. „Also es geht um einen Mann, der die Fähigkeit hat, in der Zeit zu reisen. Allerdings kann er immer nur drei Tage in der Vergangenheit bleiben, dann muss er wieder zurück in die Gegenwart und in der Vergangenheit ist es so, als wäre er nie da gewesen. Egal in welches Jahr er reist, er trifft in jedem auf dieselbe junge Frau, in die er sich sofort verliebt. Er trifft sie in jeder einzelnen Epoche. Außer in seiner eigenen. Und dann will er eben herausfinden, warum sie in jedem Jahr ist und warum nicht in seinem." Ich sehe wieder auf und beiße mir auf die Lippe. Ich seufze: „Ja, ich weiß, es ist kitschig, aber..." „Nein, nein. Ich finde es klingt überaus interessant." Meint er das ernst, oder will er nur nett sein. Ungläubig ziehe ich eine Augenbraue hoch. Er lächelt. „Ich würde es sehr gerne lesen." „Wirklich?" „Wirklich." Also entweder ist er ein guter Schauspieler oder er sagt die Wahrheit. „Gut. Dann aber erst, wenn sich das ganze mit dem Casting ein bisschen gelegt hat. Du hast ja jetzt gar keine Zeit zum Lesen. Immerhin musst du dich erstmal um 35 Mädchen kümmern und eine Frau unter ihnen finden." Er sieht plötzlich leicht traurig aus. „Oh... Ja." Komisch. Als hätte er das Casting vergessen. Er sieht auf seine Armbanduhr. „Oh nein... Wir haben leicht überzogen.", gesteht er und steht auf. Ich schiebe mir schnell noch das letzte Stück Kuchen in den Mund, spüle es mit dem Tee hinunter und erhebe mich dann ebenfalls. Henry geleitet mich noch bis zur Tür. Davor bleibt er stehen. „Also dann. Wir sehen uns beim Abendessen. Lady Georgina." Er greift nach meiner Hand, so wie er es schon auf dem Flur getan hat. „Ja. Bis bald. Prinz Henry." Dieses Mal gibt er mir keinen angedeuteten Handkuss sondern einen richtigen. Ich weiß nicht genau, wie ich das deuten soll. Doch ich habe keine Zeit mehr nachzufragen, denn schon lässt Henry meine Hand los und öffnet die Tür, vor der O'Donal schon auf mich wartet. 

Selection- Der versteckte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt