Kapitel 46 - Julis Sicht

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Leons Blick wanderte ruhig zwischen mir und Fabi hin und her. Es war unangenehm den beiden gegenüber zu sitzen, vor allem Fabi, der bisher den Augenkontakt mit mir gänzlich vermied. Das einzige was irgendwie beruhigend auf mich wirkte war, dass wir uns auf Camelot trafen, meinem „zweiten Zuhause". Natürlich fühlte ich mich ziemlich beschissen und ziemlich schuldig. Fabis Nase war glücklicherweise laut seinem Arzt nur angebrochen, ich selbst hatte nur eine geschwollene Lippe und ein paar Kratzer.
„Also, kann mir irgendeiner von euch erklären, was genau passiert ist?", eröffnete Leon und sein Blick wanderte noch immer hin und her. Es war nicht schwer zu erfahren, was passiert war. Immerhin war ich mir sicher, dass Felix, der das Ganze hier eingefädelt hatte, ihn schon ausreichend aufgeklärt hatte. Aber anscheinend wollte er es dennoch noch einmal von uns hören. Leon war ruhig, saß uns mit entspannter Körperhaltung gegenüber und bildete damit das genaue Gegenteil zu Fabi und mir. Keiner von uns beiden ergriff das Wort, wir starrten nur stur an irgendwelche Stellen an der Wand.
Es war Fabi, der zuerst die Stille durchbrach. „Was hast du denn geglaubt, was Emma und ich gemacht haben?", stieß er in gereiztem Ton hervor. Ebenso gereizt antwortete ich: „Es ist doch wohl offensichtlich, was ich gedacht habe." „Ich will, dass du es mir ins Gesicht sagst", forderte Fabi mit leiser, wutgeladener Stimme. Ich atmete einmal lautstark aus, bevor ich mich mit verschränkten Armen noch weiter zurücklehnte, den Blick auf Fabi gerichtet. „Ich dachte, ihr würdet euch küssen. Du würdest sie küssen." Fabi hatte genau gewusst, welche Antwort ich ihm geben würde, doch er schien dadurch nicht minder verärgert zu sein. Zu meiner Überraschung jedoch machte er nicht seinem Ärger Luft, sondern entgegnete enttäuscht: „Das hast du von mir geglaubt? So sehr vertraust du mir?" Darauf hatte ich keine Antwort. Denn auf der einen Seite hatte ich Fabi nun schon eine Zeit lang misstraut, auf der anderen Seite dämmerte es mir erst jetzt langsam, wie absurd das eigentlich gewesen war. „Worüber hast du mit Emma gesprochen?", schaltete sich nun Leon ein. Nun war es Fabi, der die Arme vor der Brust verschränkte. „Ich hab zufällig gesehen, dass sie das Haus verlässt und hab mir Sorgen um sie gemacht. Dann hab ich mir mein Fahrrad genommen und bin ihr hinterher. Naja, dann hab ich sie da so beim Teufelstopf sitzen gesehen, wie ein Häufchen Elend. Sie wollte mir eigentlich gar nicht sagen, was los war. Da habe ich geraten, dass sie Streit mit Juli hatte, was ja irgendwie ziemlich offensichtlich war. Daraufhin hat sie angefangen zu weinen, hat gar nichts gesagt, sie war einfach fertig. Und da hab ich sie eben kurz in den Arm genommen. Hab ihr gesagt, dass du sie über alles liebst. Hab ihr gesagt, dass ihr ein tolles Paar seid, das alles schaffen kann. Dann hat sie sich beruhigt und gerade als wir los wollten, kamst du." Bei den letzten paar Sätzen hatte er mich direkt angeschaut. Ich fühlte mich noch mieser. Es gab keinen Grund, Fabi nicht zu glauben, dass es so gewesen war. Er war ja kein chronischer Lügner und immerhin jahrelang schon mein Freund und Teamkamerad. Ich glaubte nicht, dass er mir in die Augen sehen und mich so anlügen könnte. Nicht nach allem, was wir schon zusammen durchgemacht hatten. Emma hatte mir nicht die Chance geboten, ihre Version der Geschichte zu hören. Auch wenn ich kein Recht dazu hatte, war ich ein wenig wütend darüber. Mehr noch aber war ich traurig und wütend auf mich selbst.
Die Stille fühlte sich schwer an. Ich seufzte tief und ließ mein Gesicht in meine Hände fallen. „Was ist Juli?", fragte Leon. Ich brauchte einige Sekunden, bevor ich mich gesammelt hatte und etwas sagen konnte. „Ich hab es echt verkackt. So richtig. Mit dir Fabi, mit Emma. Das ist definitiv nicht was ich wollte. Verdammt, mir tut es so leid. Ich wollte das nicht. Wirklich nicht. Das ist doch", brach ich ab, bevor mir die erste Wutträne übers Gesicht laufen konnte. Wie peinlich! Ich saß hier vor meinen Kumpels und hätte aus Frustration fast geheult. Beschämt drehte ich mich soweit von Fabi und Leon weg wie möglich. Leon stupste mich mit seinem Fuß an. Es war schwer, Leons Blick standzuhalten, vor allem da mir doch die eine oder andere Träne still über die Wange gelaufen war. Doch es war seltsam, wie viel ich aus seinem Blick lesen konnte. Auch wenn er sicher nicht begeistert war, sagte sein Gesicht mir nicht, dass er wütend auf mich war. Eher sah ich Verständnis, auch wenn seine Augen noch eine gewisse Strenge ausstrahlten. „Juli, du weißt, wie wichtig es ist, dass man sich in einer Mannschaft vertraut, oder?" Ich nickte. „Und du weißt auch, dass das schon immer auch Abseits des Platzes galt, oder? Wenn uns Vertrauen nicht so wichtig wäre, hätten wir in der Vergangenheit nie den schwarzen Punkt eingeführt. Niemand weiß besser, wie sehr Misstrauen schmerzt, als Fabi. Aber genau daraus hättest du auch lernen müssen", erklärte Leon, während sein Blick nun auf Fabi lag. Der hielt seinem Blick eindeutig besser stand als ich. Naja, er hatte auch offensichtlich mehr Wut im Bauch als ich und musste sich nun, nachdem er schon eine von mir kassiert hatte, noch eine verbal von Leon mitgeben lassen. Wären die beiden nicht die besten Freunde, hätte es anders ausgehen können. Doch Fabi vernahm erstaunlich ruhig was Leon als Nächstes erklärte: „Fabi, du hast an und für sich nichts falsch gemacht. Aber vielleicht hättest du zuerst mit Juli sprechen sollen. Das hier ist wieder das perfekte Beispiel dafür, wozu Alleingänge führen." Während ich mich am liebsten zusammengerollt hätte, erschien Fabi ungerührt. Der Blick den Leon mit dann zuwarf war erwartungsvoll. Ich wusste genau was er wollte. Das hier war der Punkt, an dem ich mich aufrichtig entschuldigen musste. Und ich wollte auch, doch ich musste einige Sekunden durchatmen und mich sammeln. Wie konnte so etwas so schwer sein? Als ich Fabi anschaute und seine Nase betrachte, da wurde mir wieder ganz anders. Sein Gesichtsausdruck war noch immer kaum zu lesen. „Fabi, ich weiß überhaupt wo ich anfangen soll. Verdammt man, ich bin einfach durchgedreht, also so richtig. Ich kann das jetzt hier nicht so erklären, aber die Angst Emma zu verlieren, an dich, die hat mich verrückt gemacht. Und euch beide so zu sehen, ich dachte nur, jetzt ist es passiert. Ich dachte echt, es wäre soweit und ich hätte sie verloren an dich. Es gibt kaum eine Entschuldigung für das was ich gemacht habe, aber es tut mir trotzdem unendlich leid." Die Worte waren aus mir herausgesprudelt und verzweifelt suchte ich Fabis Gesicht nach irgendeinem Zeichen von Vergebung ab. Doch umsonst, er erhob sich nur von der Kiste, auf der er gesessen hatte, und begab sich auf den Balkon. Mit aufgelöster Miene starrte ich zu Leon, der mich versuchte mit seiner Mimik und Gestik zu beruhigen. Er ging Fabi hinterher und ich beobachtete, wie die beiden angeregt, aber so leise, dass ich es nicht hören konnte, miteinander sprachen. Seltsamerweise erinnerte es mich an die Auseinandersetzung die ich mit Emma an der gleichen Stelle gehabt hatte - ironischerweise wegen Fabi.
Leon hatte es geschafft Fabi zu beruhigen, auch wenn er zuerst nicht zu hundert Prozent davon überzeugt schien, meine Entschuldigung anzunehmen. Doch als ich ihm meine Hand hinstreckte, zeigten sich wieder die ersten Züge seines typischen Grinsens. „Alles ist gut", sagte ich leise und Fabi schlug ein und antwortete: „solange du wild bist." Was auch immer Leon mit Fabi besprochen hatte, es hatte anscheinend Wirkung gezeigt, wofür ich ihm wirklich dankbar war. Auch wenn Leon anstrengend sein konnte, vor allem in seiner Trainerrolle, so war und blieb er doch der geborene Anführer. Er hatte einfach ein gewisses diplomatisches Geschick, dass ich nie verstehen würde. Fabi verabschiedete sich und ich erwartete, dass Leon dasselbe tun würde. Doch zu meinem Erstaunen machte er keine Anstalten, Camelot zu verlassen. Stattdessen zeigte er auf die Kisten, auf denen wir zuvor gesessen hatten, und sagt: „Juli, setzt dich nochmal. Ich will noch ein paar Worte mit dir reden."
Wie bitte? Mein Herz klopfte bis zum Hals. Was wollte Leon jetzt von mir?

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