Kapitel 18

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Er musste bei der alten Ruine sein, hinten im Finsterwald. Die Art und Weise wir er darüber gesprochen hatte, als wäre es ein heiliger Ort, hatte mir gezeigt was es ihm bedeuten musste, dort zu sein.
Nun musste ich diesen Ort nur noch finden. Ich war noch nie dort gewesen und hatte nur eine vage Vorstellung davon, wo ich lang musste. Auf jeden Fall weg von den Wohnstraßen und vorbei an Maxis Haus. Ich konnte den Wald schon ein wenig sehen mit seinem dunklen Dickicht und radelte direkt darauf zu. Den Wald zu finden war also nicht das Problem gewesen, aber die Ruine konnte überall sein. Beim Blick in den Wald hinein wurde mir klar, dass ich mein Fahrrad dort nicht weiter benutzen können würde, also versteckte ich es in einem nahen Gebüsch und machte mich zu Fuß auf den Weg. Den Gedanken, nach ihm zu rufen verwarf ich wieder, das kam mir albern vor, falls er gar nicht hier war oder vielleicht auch nicht gefunden werden wollte.

Immer weiter und tiefer drang ich in den Wald ein und hielt die Augen offen, doch ich hatte bisher keine Spur, weder von der Ruine, noch davon, ob sich irgendjemand hier bewegt hatte. Doch ich war mir auch sicher, dass selbst wenn Juli hier gewesen war, dann hätte er sicher keine Spuren hinterlassen. Meine Ausdauer weiterzusuchen neigte sich dem Ende zu und ich musste sicher schon eine Stunde unterwegs gewesen sein, bevor ich etwas entdeckte. Ein paar Meter entfernt konnte ich die steinernen Überreste eines Tors erkennen. So leise wie möglich bewegte ich mich darauf zu, doch Juli schien mich schon längst bemerkt zu haben, denn er saß an einen Teil des Tores gelehnt und schaute mich an. Da saß er einfach, als wäre es das normalste auf der Welt zu verschwinden und in einem dunklen Wald rumzuhängen. „Hey“, sagte er leise, mit einem hochgezogenen Mundwinkel und müden Augen. Ich war mir nicht sicher ob er froh war mich zu sehen oder genervt, weshalb ich zu aller erst fragte: „Soll ich wieder gehen?“ Sein Blick wanderte zu erst in in die Ferne, zu einem Graben voller Brennesseln, der sich mehrere hundert Meter zu ziehen schien. „Nein, ist schon okay. Ich bin ein wenig überrascht, dass du mich gefunden hast. Vielleicht bin ich kein guter Huckleberry mehr.“ „Aber vielleicht bin ich auch nur eine zähe Nervensäge, die man nicht davon abbringen kann, einen Plan bis zur zufriedenstellenden Vollendung zu verfolgen.“ „Noch komplizierter und zugleich treffender hätte man es nicht ausdrücken können“, entgegnete er schmunzelnd und fügte hinzu: „Wobei ich dich nicht eine Nervensäge nennen würde.“ Langsam bewegte ich mich ein wenig auf ihn zu, bis er auf den Waldboden neben sich klopfte und mir bedeutete sich zu ihm zu setzen. Zögerlich folgte ich dieser Einladung und hakte nach: „Willst du über irgendwas reden?“ Juli schaute mir kurz in die Augen, bevor sein Blick wieder fort wanderte und er antwortete. „Da ich weiß, dass es dich und deine neugierige Ader umbringen würde, nicht zu wissen was los ist, du meine Lügen durchschauen würdest und ich es dir früher oder später sowieso erzählen würde, erzähle ich es einfach gleich.“ Er atmete tief ein und aus, sprang dann jedoch auf und sagte: „Weißt du was nein, vergiss es, ist egal.“ Verwirrt starrte ich ihn an. „Juli, was auch immer los ist, rede mit mir. Bestimmt gibt es eine Lösung, ich verstehe-“ Weiter kam ich nicht, denn Juli hatte sich ruckartig zu mir gedreht und die Hände zu Fäußten geballt. „LÖSUNG!“ Verbittert lachte er auf. „WAS WILLST DU DENN SCHON DAVON VERSTEHEN?“ Unwillkürlich zuckte ich zurück, denn in keinster Weise hatte ich diese Reaktion erwartet. Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Ich erkannte ihn kaum wieder mit seinem zerzausten Haar und den geröteten Augen und diesem aggressiven Ausdruck. Er hatte wohl bemerkt, welchen Eindruck er auf mich gemacht hatte, denn er schien vor sicht selbst zu erschrecken, atmete tief durch und entspannte sein Körperhaltung. „Es tut mir leid“, murmelte er dann vor sich hin, „das wollte ich nicht. Emma, verzeih mir bitte.“ „Rede mit mir“, gab ich nur zurück, denn ich wollte wirklich wissen, was ihm auf dem Herzen lag. Kurz verbarg er sein Gesicht in seinen Händen, seufzte und schaute mich dann an. „Okay“, antwortete er und räusperte sich. „Ich muss ein bisschen weiter ausholen. Erinnerst du dich an Felix Geburtstag, als Markus das mit meinem Vater angesprochen hat? Ja, das hatte ich dir noch nicht erklären können und ich schätze, das werde ich jetzt tun müssen. Okay, also meine Eltern waren, als sie sich kennengelernt hatten, noch sehr jung und nicht sehr lange zusammen, als meine Mutter schwanger wurde mit mir. Die beiden haben versucht, dass es funktioniert, aber als meine Mutter wieder schwanger wurde, ging das ganze in die Brüche. Sie lebten sich auseinander, wie auch immer. Ich weiß nur, dass sie nicht wirklich im Streit auseinander gegangen sind. Aber dennoch hat meine Mutter uns alleine großgezogen, ich glaube sie wollte das so und ich bewundere sie immer noch dafür, sie ist die beste Mutter der Welt und ich liebe sie über alles. Aber wie auch immer, an einem Punkt in meinem Leben wollte ich ihn kennen lernen. Meinen Vater. Ich schätze, mir hat einfach etwas gefehlt; ich wollte auch einen Vater der stolz auf mich ist und dem ich von meinen Spielen erzählen kann. Ich war mir sicher ihn hier“, er zeigte auf die Steppe hinter sich, „zu finden, meine Mutter hatte das angedeutet. Sie half mir auch, ihn zu einem Spiel einzuladen, denn er lebt wirklich hier. Er kam zu meinem Spiel und seitdem haben wir uns immer wieder gesehen und ein wenig Kontakt aufgebaut.“ „Und Joschka?“, unterbrach ich ihn. „Joschka wollte nie richtig Kontakt mit ihm, ihm fehlt er nicht wirklich. Gut für ihn.“ Wieder lachte er bitter auf. „Aber wieso hast du so komisch darauf reagiert, als Markus von deinem Vater angefangen hat?“, wollte ich dann wissen. Betreten schaute er zu Boden. „Die anderen wissen nicht, das er hier lebt, in den Graffitiburgen. Sie denken er lebt außerhalb der Stadt. Ja, ich weiß das ist beschissen, aber weißt du, Maxis und Markus Väter sind Großverdiener, Rocces Vater ist Starspieler bei den Bayern. Und mein Vater... Es hat sich einfacher angefühlt zu lügen. Und sowieso, hatten wir nie das Verhältnis, das mir gewünscht hatte. Ich wollte doch nur-“ Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und er fing an zu weinen, unfähig weiterzusprechen. Langsam stand ich auf und bewegte sich in seine Richtung, doch berührte ihn nicht. Mit einem letzten Schluchzen, presste er seine Fäuste gegen seine Augen und atmete immer wieder tief aus und ein. Nachdem er sich beruhigt hatte, sprach er weiter. „Gestern Abend wollte ich zu ihm, für einen, ähm, Rat und wir saßen da und ich habe ihm erzählt um was es geht, aber er hat überhaupt nicht zugehört. Und plötzlich fängt er an, mir zu erzählen, dass er eine neue Freundin hat. Das hatte er vorher nie erzählt!“ Er wurde jetzt immer lauter beim Sprechen. „Eine neue Freundin! Aber das ist nicht alles! Sie ist schwanger! Und weißt du was er zu mir sagt? Er wird Vater. ER WIRD VATER? ER WIRD? Als wäre er nicht bereits ein Vater! Als gebe es mich nicht! Oder Joschka! Und dann offenbart er mir, dass er wegziehen will, zu seiner Freundin und das wir uns wahrscheinlich weniger sehen werden, denn er würde natürlich viel zu tun haben, wegen dem Umzug und dem Kind. Ich solle das doch verstehen, er freue sich so. Natürlich habe ich ihn gefragt, warum er mir nie von seiner Freundin erzählt hat oder sie mir vorgestellt hat. Und jetzt kommts: Er hat herumgedruckst, das wäre schwierig und alles und es hätte sich einfach nicht ergeben - und dann ist es mir klar geworden: Er hat ihr nicht von mir erzählt. Erst in diesem Moment hatte ich es geschnallt, denn auch die Bilder von uns beiden standen nicht mehr da wo sie waren. Da waren nun Bilder von ihm und ihr. Dieser Typ will einfach verschwinden in ein neues Leben und mich zurück lassen. Ich bin doch auch sein Kind! Bin ich weniger wert? Wie kann man seinem eigenen Kind so etwas antun?“ Wieder begann er zu weinen und ich begann ein wenig zu verstehen. Vorsichtig nahm ich ihn in den Arm und strich ihm behutsam über den Rücken.

Erst als er sich wieder ein wenig beruhigt hatte flüsterte ich in sein Ohr: „Aber wieso bist du weggeblieben?“ Mit seinem Blick weiter auf dem Boden löste er sich. „Ich konnte nicht zurück nach Hause. Ich konnte es nicht ertragen, meiner Mutter in die Augen zu sehen und ihr zu zeigen, was mein Vater angerichtet hatte. Und ich wollte nicht, dass Joschka das alles mitbekommt. Er soll nicht wissen, dass sein Vater ihn ablehnt, ohne ihn zu kennen. Ich konnte nicht einfach mich wieder an den Tisch setzen und so tun, als wäre alles okay.“ „Du hast deine Schultasche mitgenommen, aber bist nicht gekommen. Warum?“ Sein Blick schweifte nun gen Himmel und er schnaubte. „Dann wäre ich Joschka ja wieder in die Arme gelaufen. Außerdem konnte ich es nicht ertragen, die anderen zu sehen, mit ihren perfekten Leben und ihren tollen Vätern. Und was habe ich? Einen Scherbenhaufen.“ Kopfschüttelnd widersprach ich ihm. „Es fühlt sich aber verdammt so an“, murmelte er. Ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte. Julis Schmerz musste riesig sein und er hatte recht, ich konnte das niemals nachvollziehen. Wie konnte ich ihm in seinem Leid gerade helfen? Mehr, als ihn wieder in eine Umarmung zu ziehen und ganz fest an mich zu drücken, fiel mir nicht ein.

Nach einiger Zeit hatte er sich beruhigt und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Danke“, flüsterte Juli, „und bitte verzeih mir, dass ich dich angeschrien habe. Ich bin einfach ziemlich fertig.“ „Mach dir keine Sorgen darum. Dir geht es gerade einfach beschissen und da hast du jedes Recht, deine Gefühle einfach mal rauszulassen.“ Juli nickte, mit einem milden Lächeln im Gesicht. „Lass uns nach Hause gehen. Ich will hier nicht mehr länger bleiben“, schlug er vor und ich stimmte zu. Wir bewegten uns vorwärts, doch ich blieb stehen und stammelte: „Also, ähm, Juli, ein Problem gibt es noch.“ Mit einem fragenden Blick hatte er sich zu mir umgedreht. „Ich hab mein Fahrrad am Waldrand zurück gelassen, ein Stück entfernt von hier.“ „Wo genau?“ So gut wie ich konnte, versuchte ich den Ort, wo mein Rad noch versteckt im Gebüsch lag zu beschreiben. Aufmerksam hörte er zu und nickte dann. „Alles klar, folg mir einfach.“ Zielsicher steuerte er durch den Wald und in der gefühlt halben Zeit, die ich gebraucht hatte um ihn zu finden, hatte er uns an genau dem Punkt aus dem Wald geführt, an dem ich hinein gegangen war. Glücklicherweise war mein Fahrrad auch noch genau da, wo ich es abgestellt hatte. Ich fischte es heraus und wir machten uns weiter auf den Weg in die Stadt. Die Sonne näherte sich dem Horizont und auch die Temperatur ließ langsam nach.

Stillschweigend liefen wir zuerst nebeneinander her, bis Juli fragte: „Warum hast du eigentlich nach mir gesucht?“ Ich nahm mir einen Moment zu überlegen, bevor ich antwortete: „Ich konnte nicht glauben, dass du einfach so wegläufst, nur weil “Du das schon immer so gemacht hast“. Irgendwie war ich mir sicher, dass du dafür einen Grund haben musstest, und zwar keinen angenehmen und ich wollte dich damit nicht allein lassen. Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht, auch, dass dir etwas passiert sein könnte. Und es war ein komisches Gefühl, dass du nicht da warst, auf dem Weg zur Schule und auf dem Platz neben mir. Natürlich war ich mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist dich zu suchen, weil ich nicht wollte, dass die anderen mich für bescheuert halten und ich hatte Angst, du willst mich gar nicht sehen. Aber ich bin froh, dass ich es gemacht habe.“ Milde lächelte ich ihn an, auch ein wenig verlegen, weil ich nicht wusste, wie er das finden würde. Doch der Blick, den er mir dann gab zeigte mir ich hatte das Richtige getan. Er strahlte mit dem Lächeln in seinem Gesicht, obwohl er abgekämpft aussah, eine Dankbarkeit aus, die die ganze Suche wert gewesen war. „Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll“, brachte er dann leise heraus und fügte dennoch hinzu: „Es ist süß von dir, dass du dir Sorgen gemacht hast und danke, dass du zugehört hast. Wäre mir lieber gewesen, du hättest mich nicht in diesem schrecklichen Zustand gesehen und ich hätte dich nicht angebrüllt. Aber ich weiß, dass meine Sorgen und Probleme bei dir gut aufgehoben sind. Ich weiß nicht, wie ich dir das zurück geben kann.“ „Ganz einfach“, entgegnete ich, „rede mit mir. Du musst deine Probleme nicht alleine angehen, auch wenn ein Huckleberry das wahrscheinlich so macht. Geht das?“ Er nickte. „Ich vertraue dir. Du mir auch?“ Für einen Moment schossen mir die Gespräche durch den Kopf, bei denen Juli mich danach gefragt hatte, was mich belastete und ich ihm keine Antwort hatte geben können. Doch das war etwas anderes, ich wollte ja mit ihm reden, aber wie? „Ich vertraue dir auch. Sonst hätte ich dich nie gesucht“, beantwortete ich seine Frage und meinte es auch so.

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