Kapitel 30 - Julis Sicht

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Vorsichtig ließ ich meine Finger über ihr Haar, ihren Nacken und ihren Rücken gleiten. Ich konnte spüren, wie es Gänsehaut bei Emma hervorrief und dennoch zeigte ihr Gesicht wohligen Genuss. Dieses Gesicht eines Engels, mit diesem wunderschönen Lachen. So sehr wollte ich diesen Moment einfach nur genießen und mich fallen lassen, aber das, was ich gesagt hatte, schwebte mir noch immer durch den Kopf. Natürlich hatte es mich unendlich gefreut, dass Emma einen tollen Familienmenschen in mir sah, doch die Ängste blieben trotzdem. Meine Mutter hatte nach meinem letzten Zusammentreffen mit meinem Vater natürlich bemerkt, dass mich mehr belastete als die Schule und sie brauchte nicht viele Worte um mir zu entlocken was passiert war. Der Blick, diese Mischung aus Wut und Trauer, den sie so sehr versuchte nicht zu zeigen, machte mir klar, dass dieser Mann nicht nur mich verletzt hatte, sondern auch meine Mutter. Und das nicht zum ersten Mal. Ich wusste, dass sie uns liebte und dennoch war es für sie nie leicht gewesen, zwei Jungen großzuziehen. Nie hatte sie sich beschwert, doch ich war mittlerweile alt genug um zu verstehen, was das eigentlich bedeutete. Ich war stolz auf meine Mutter und wurde von Tag zu Tag wütender auf meinen Vater. Dieser Mann, der weder Verantwortung, noch bedingungslose Liebe zeigen konnte. Auch wenn Emma beteuerte, dass ich nie so werden würde, steckte nicht dennoch etwas von ihm in mir? Konnte mir jemand garantieren, dass ich nicht so werden würde wie er? Würde ich es schaffen zu Emma zu halten, wenn schwierige Zeiten kommen würden?

Ich war froh, dass Emma sich an mich gelehnt hatte und so meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Ich drückte ihr einen Kuss aufs Haar, worauf sie sich noch enger an mich schmiegte. Das hier sollte mich gerade zum glücklichsten Menschen auf der Welt machen, doch ich blieb nachdenklich.

Die Sonne versank und die Kälte kroch an uns beiden herauf. Emma schlang die Arme um ihren Körper und drehte sich zu mir um zu sagen: „Wollen wir nach drinnen gehen?" Als Antwort nickte ich und wir klettern nach unten und gingen durch die Terrassentür nach drinnen. Meine Mutter war gerade in der Küche dabei, Abendessen zu machen und sie lächelte, als sie uns beide sah. „Na ihr zwei", rief sie aus, „es gibt bald Essen, ich hoffe ihr habt Hunger." Mit aufgerissenen Augen drehte sich Emma zu mir, wahrscheinlich um so etwas zu sagen wie, dass sie nicht schon wieder bei uns Essen könne oder dass das nicht nötig wäre, doch ich kam ihr zuvor indem ich meiner Mutter antwortete: „Ja, haben wir. Wir gehen auf die Couch bis es fertig ist." Dann packte ich ihre Hand und zog sie hinter mir her zur Couch, wo ich sie neben mir platzierte. Direkt kuschelte sie sich an mich und blickte mit ihren rehbraunen Augen zu mir hinauf. Ich musste lächeln und gab ihr einen schnellen Kuss. „Ist morgen wieder Training?", fragte sie mit leiser Stimme. „Ja, Leon will auch eine Nachbesprechung des letzten Spiels machen. Da bekomme ich bestimmt mein Fett weg." Ich seufzte und setzte mich etwas gerader hin. Emma dreht sich so, dass sie mich streng anschauen konnte. „Bestimmt nicht", widersprach sie und zog die Augenbrauen zusammen, „du hast es am Ende doch noch rausgerissen." Dieser unendliche Glaube an mich füllte mein Herz wieder mit Stolz und Wärme und ich legte eine Hand an ihre Wange. Meine Anspannung verschwand trotzdem nicht ganz, es schien mir so, als wäre sie heute schon den ganzen Tag da. Ich wollte mich in Emmas Nähe entspannen, doch sie konnte mir meine Sorgen, die sich um sie, meine Familie und den Fußball drehten, einfach nicht komplett nehmen.

Meine Mutter rief nach uns und meinem kleinen Bruder. Gemeinsam machten wir es und am Tisch bequem und ich verteile das Essen. Meine Mutter lächelte zufrieden, als sie und alle zusammen so betrachtete. „Ich freu mich, dass du heute wieder hier bist", erwähnte meine Mutter während sie Emma anschaute. Emma errötete und schien überrascht zu sein von der Ehrlichkeit meiner Mutter. „Oh, äh, danke", erwiderte sie und fügte noch hinzu, „Ich bin auch immer gerne hier." Sie strahlte über das ganze Gesicht. Nur Joschkas Blick konnte ich nicht deuten, es war eine Mischung von Verwirrung und Ablehnung. Joschkas Interesse an Mädchen hielt sich noch in Grenzen, obwohl Andere in seinem Alter schon nichts mehr anderes im Kopf hatten. Es schien mir manchmal so, als hätte er größtenteils nur Fußball und das nächste mögliche Abenteuer im Kopf und das war auch okay so, solange er sich nicht in Gefahr brachte. Das Leben wurde sowieso nicht einfacher, wenn man anfing sich für Mädchen oder Jungen oder wen auch immer zu interessieren, nein im Gegenteil, dadurch wurde es erst wirklich kompliziert. Meine Freunde und ich waren die lebendigen Beispiele dafür. Immerhin wäre ich Fabi am liebsten manchmal an die Gurgel gegangen, obwohl wir einander ewig kannten und Maxi hatte sich teilweise noch mehr verschlossen, nur um seine Gefühle für Darlene zu verdrängen. Auch Leon hatte die ein oder andere verrückte Sache getan, nur um Vanessa zu beeindrucken. Meine Hoffnung war nur, dass ab jetzt alles gut laufen würde.

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