Kapitel 43

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Ich konnte es nicht ertragen das ganze Drama wieder in der Schule auszuleben, weswegen ich den feigen Weg ging und mich krankmeldete. Nachdem ich die letzte Nacht fast nur mit weinen und grübeln verbracht hatte, war es auch nicht schwer meine Mutter davon zu überzeugen, dass es mir schlecht ging. Ich erfand zu meinen wirklich existierenden Kopfschmerzen noch Halsschmerzen und Schnupfen dazu und meine Mutter war überzeugt. Wieder einmal meldete ich mich bei Darlene ab, die die Nachricht an die Lehrer weitergeben wollte.
Nachdem ein weiterer Versuch zu schlafen nicht funktioniert hatte, ging ich duschen. Es fühlte sich gut an unter dem warmen Wasser zu stehen und ein wenig zu entspannen. Doch spätestens als ich wieder vor dem Badezimmerspiegel stand und mein nasses Haar mein blasses Gesicht umrahmte, war alle Entspannung verflogen. Kraftlos starrte ich mein Gesicht an, meine Augen zeigte tiefe Augenringe, dank der letzten Nacht. Wie konnte das passieren? Wie konnte es sein, dass der Junge, den ich so liebte, mich auch so fertig machte? Als wir auf Camelot gesessen hatten und uns geküsst hatten, im Sonnenuntergang, da wäre ich nie darauf gekommen, dass ich nur wenig später hier stehen würde und mein ausgeweintes Gesicht anstarren würde. Ich war überzeugt, dass alles wieder hinzubiegen. Ich wusste noch nicht wie, aber wir würden das wieder hinbiegen, redete ich mir ein.

Darlene rief mich nachmittags an, um mir die Hausaufgaben mitzuteilen und natürlich auch zu fragen, was bei mir los war. Juli hätte in der Schule wohl auch ausgesehen, als hätte er kein Auge zu getan, doch ich war nicht bereit darüber zu sprechen. Glücklicherweise akzeptierte Darlene dies, auch wenn ich mir sicher war, dass es ihre neugierige Art innerlich fast umbrachte. Doch schon wieder vor meinen Freundinnen zuzugeben, welch eine Tragödie meine Beziehung war und den gestrigen Tag noch einmal zu durchleben, erschien mir nicht als Option. Erstmal musste sie sich mit der Version zufrieden geben, dass ich einfach nur krank wäre. Von Juli hörte ich mal wieder nichts, doch das überraschte mich nicht. Wir beide verdauten irgendwie, was los war, was der andere gesagt hatte und wahrscheinlich auch, wie es zukünftig weiter gehen sollte.

Selbst als es wieder draußen dunkel wurde, raste mein Kopf noch. Zwischen Joshua, unserem ersten Kuss, als er sagte, dass er mich liebte, aber nur als seine beste Freundin, als ich mich so verunsichert gefühlt hatte, dass ich meinen Selbstwert anzweifelte und trotzdem in seiner Nähe bleiben wollte, weil wir beide so viel gemeinsam hatten und wir so viel erlebt hatten. Wie der Umzug Strafe und Erlösung zugleich war, ich hier angekommen war und in einen Wirbelsturm aus charismatischen Leuten gezogen wurde. Und nun mich neu verliebt hatte, schnell und hart, wie vom Blitz getroffen, unvorhersehbar und fast genauso schmerzhaft.
Während ich in der vorherigen Nacht kaum schlafen konnte, schlief ich in dieser umso mehr. Es dauerte für meine Verhältnisse lange, bis ich mich auch nur ansatzweise wach genug fühlte, um aus dem Bett zu krabbeln. Der Maskerade gegenüber meine Mutter spielte das natürlich in die Karten, die nur mit besorgten Blick ihren Kopf durch die Tür geschoben hatte, bevor sie Medikamente und Tee auf meinem Nachtisch zurückgelassen hatte. Immerhin die Kopfschmerztablette nahm ich, um mich irgendwie besser zu fühlen.
Am späten Nachmittag kam mir die Idee einen Spaziergang zu machen. Das Wetter war großartig und auch wenn das überhaupt nicht zu meiner Laune passte, glaubte ich, dass ich mich dadurch besser fühlen würde. Auch meine Mutter, bei der ich mich abmeldete, hielt dies für eine gute Idee, ich sollte ihr nur schreiben wo ich hin wollte, damit sie mich gegebenenfalls abholen konnte.
Zuerst war ich ziellos, da mir die Stadt manchmal immer noch ein wenig fremd war, doch dann wurde mein Ziel ziemlich klar: Der Teufelstopf. Das schrieb ich auch meiner Mutter. Ich hoffte einfach, dass niemand sonst da sein würde und hatte tatsächlich Glück. Mit gespitzten Ohren ging ich immer näher, nur um mit Stille begrüßt zu werden.
Ich ging nicht mal hinein, sondern setzte mich auf den Hügel, von dem aus man ihn komplett überblicken konnte. So vertraut und doch so fremd kam mir dieser Ort vor. Wenn ich dort so saß, erinnerte ich mich an die schönen Momente, die ich erlebt hatte. Ich konnte nicht leugnen, dass in mir diese kleine Angst hockte, dass Juli und ich uns vielleicht nicht zusammenreißen konnten und ich dann nie wieder in den Teufelstopf kommen konnte. Das dann alles, was gerade so schön begonnen hatte, schon wieder vorbei sein würde. Denn es war ja logisch, wer von uns beiden dann seine Freundschaft zu den Kerlen knicken konnte.
Hinter mir hörte ich, neben den normalen Geräuschen der Stadt, das Surren einer Fahrradkette. Normalerweise wäre es mir egal gewesen, doch da all meine Freunde ständig auf Fahrrädern unterwegs waren und ich hier immerhin an einem ihrer Orte rumhing, ahnte ich schon, dass ich gleich einem der Wilden Kerle gegenüberstehen würde. Das passte mir zwar gar nicht in dem Kram, aber mal ehrlich, mit meinem Auflauf hier, hatte ich das ganze herausgefordert und jetzt wegzurennen war auch keine Option. Vielleicht sollte es ja auch gar keiner der Kerle sein, sondern jemand ganz fremdes. Und selbst wenn, hätte ich mich schon mit irgendeiner Ausrede retten können. Ich drehte mich nicht um, denn wenn es eine unbekannte Person gewesen wäre, dann hätte ich dieser wenigstens meinen elenden Anblick ersparen können. Doch das Geräusch kam näher und näher, was für mich deutlich machte, dass ich gleich mit einem meiner Freunde konfrontiert werden würde. Ich hatte mit niemandem spezifisch gerechnet, doch aus irgendeinem Grund am wenigstens mit dem Blondschopf, der sich neben mir fallen ließ. Fabi sagte nichts, sondern setzte sich nur hin, mit genug Abstand, dass wir einander doch gut genug aus dem Augenwinkel betrachten konnten. „Vor ein paar Jahren", begann er zu erzählen, „hatte Marlon einen Kreuzbandriss. War eine üble Geschichte, mit Operation, Krankenhausaufenthalt und allem drum und dran. Für eine Zeit lang hat er gedacht, er könnte nie wieder Fußball spielen. Ein absoluter Weltuntergang. Und genau so, wie damals der arme Marlon aussah, so siehst du auch gerade aus." Mittlerweile lag sein Blick auf mir, wanderte an mir kurz auf und ab. „Aber offensichtlich bist du so gut zu Fuß, dass du bis hier her laufen konntest. Also ist es nicht die Angst, nie wieder Fußball zu spielen, warum du hier sitzt und aussiehst wie erschlagen, oder? Warum geht deine Welt unter, Emma?" Nun sah auch ich ihn an. In Fabis Gesicht sah ich diesen Ausdruck, nicht so mitleidig wie Darlene zuletzt ausgesehen hatte, sondern eher... zuversichtlich? Aufmunternd? Oder doch besorgt? „Meine Welt geht nicht unter", antwortete ich trotzig. Ja, es war schön, dass sich Fabi bemühte, nach mir zu sehen und mich zu fragen, wie es mir ging. Doch das machte es gerade nicht besser. Und außerdem war er eigentlich der Letzte, dem ich meine Beziehungsprobleme aufbinden wollte. „Dein Gesicht sagt was anderes", murmelte er und er hatte Recht. Ich wusste selbst, dass mir mein Kampf mit den blöden Tränen am Gesicht abzulesen war. Im Verstecken von Gefühlen war ich nie besonders gut gewesen. Fabi legte den Kopf ein wenig schief und fragte: „Streit mit Juli?" Dadurch, dass wir uns in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen waren, war das sicherlich nicht schwer zu erraten gewesen. Ich versuchte dem besorgten Blick Fabis mit sturer Neutralität zu begegnen, doch es ging nicht. Eine Träne bahnte sich den Weg über mein Gesicht, was dafür sorgte, dass Fabi mich in den Arm nahm. Dieses Gefühl der Nähe, Fabis vertrauter Geruch, wie er in ruhigen Bewegungen über meinen Rücken strich, das alles sorgte dafür, dass nur noch mehr Tränen flossen. „Was auch immer bei euch los ist, und ich weiß es geht mich nichts an, ihr beide schafft das schon. Emma, glaub es mir wirklich, Juli liebt dich. Das sieht man, in jeder Sekunde. Und du liebst ihn doch auch oder?" Eifrig nickte ich, noch immer an seine Brust gedrückt. „Na siehst du. Du bist so ein tolles Mädchen und glaub mir, wenn ich bei Juli nicht bemerkt hätte, wie er dich anschaut, dann hätte ich auch meine Chance gesucht. Vielleicht ein anderer auch. Aber ihr beiden gehört einfach zusammen, davon bin ich überzeugt. Und erinner dich daran, ich war genauso überzeugt davon, dass du hier deine Heimat finden wirst und damit hatte ich auch Recht, oder?" Wieder nickte ich nur als Antwort. „Siehst du", nuschelte er in mein Ohr, bevor er die Umarmung beendete und mir vom Boden aufhalf. Ich fühlte mich zwar immer noch ziemlich bescheiden, doch durch Fabis Worte schon ein bisschen besser. Er hatte Recht. Juli und ich könnten es schaffen, denn immerhin waren wir verrückt nach einander. Wir mussten nur endlich einen Weg für uns finden. Wieder mit diesem gewinnenden und milden Lächeln auf den Lippen legte er seine Hände an meine Wangen, um meine Tränen wegzuwischen.

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