Kapitel 42

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Am nächsten Tag erwachte ich noch vor meinem Wecker, doch ich hatte den Plan gefasst „zu verschlafen", damit meine Mutter mich in die Schule fahren musste. Das würde ihr zwar nicht gefallen, doch so konnte ich immerhin Juli aus dem Weg gehen und musste nicht laufen, zumal es draußen noch immer nass und kühl war. Die Standpauke meiner Mutter nahm ich lieber in Kauf, als aus dem Haus zu treten und direkt auf Juli zu treffen. Mir war klar, dass ich mich mal wieder nicht sehr erwachsen verhielt, aber Juli benahm sich auch mal wieder wie ein Idiot, daher störte mich auch das nicht. Wie erwartet war meine Mutter alles anderes als begeistert, dass ich ihren Tagesplan durcheinander brachte, doch mit meiner Ausrede von bestialischen Kopfschmerzen konnte sie ein wenig besänftigen. Das war auch nur ein halbe Lüge, denn ich hatte schon das Gefühl, das mir der Kopf brummen würde. Zum einen weil ich schlecht geschlafen hatte, zum anderen weil mein Kopf wieder raste, was ich in der Schule zu Juli oder allen anderen sagen sollte. Lediglich Darlene schrieb ich zuhause schon, dass ich später kommen würde.
Kurz vor dem Läuten der ersten Stunden, ich hatte wirklich solange gezögert wie möglich, öffnete ich die Tür zum Klassenzimmer. Herr Hochmuth war schon da, akzeptierte aber mein spätes erscheinen, da ich gerade noch pünktlich war.
Natürlich wanderte mein erster Blick zu Juli, auch wenn ich es selbst nicht wollte. Er starrte in sein Deutschbuch, als gebe es nicht spannenderes. Typisch. Darlene hingegen starrte mich so mitleidig an, als ob mir Gott weiß was passiert wäre. Auch wenn ich mich selbst nicht so gut fühlte, war ich ja nicht krank oder ähnliches. Auf meinem Platz angekommen kamen wir überhaupt nicht dazu auch nur ein Wort auszutauschen, da Herr Hochmuth mit seinem Unterricht begann und mich mit seinem Blick fixiert hatte.

Der Zeiger auf der Uhr kroch voran und so sehr ich mich auch langweilte, so sehr graute es mir auch vor der ersten Pause. Dieses ganze Drama aus Ignorieren und Streiten ging mir gerade gehörig auf die Nerven. Aber ich war auch zu stolz, um einfach über das Geschehene hinweg zu sehen und ganz normal weiterzumachen, zumal es Juli gewesen war, der sich so bescheuert aufgeführt hatte. Deshalb verschwand ich zum Pausenklingeln auch so schnell wie möglich aus dem Klassenzimmer in Richtung der Toiletten. „Emma, warte!", hörte ich Vivis Stimme hinter mir. Da ich ja nicht wütend auf meine Freundinnen war, sondern nur auf Juli, blieb ich stehen. „Wie geht's dir?", fragte Darlene, sobald die beiden mich eingeholt hatten. Wir befanden uns gerade noch am Ende des Ganges, weit genug weg von der Klasse, dass wir nicht gestört wurden. „Naja, geht so", antwortete ich so ehrlich wie möglich, da ich nicht wirklich benennen konnte, wie es mir ging. Ich schwamm irgendwo zwischen Wut, Enttäuschung und Scham, zwischen „Das Ganze vergessen" und daran festhalten. „Hat er sich entschuldigt?", bohrte Vivi nach und ich wusste, dass beiden mir nur Gutes wollten, doch es tat weh jetzt „Nein" zu antworten. Auf Vivis Gesicht zogen sich die Augenbrauen zusammen, während Darlene noch immer eher traurig reinblickte. Auch wenn Vivi nur leiste vor sich hin murmelte, konnte ich genau hören, wie sie ein kurzes „Idiot" ausstieß. Und ein wenig hatte sie ja auch Recht. „Ich hoffe, das macht er bald, ihr solltet euch wieder vertragen", entgegnete Darlene und ich schnaubte kurz. Mit erhobenen Händen stieß ich aus: „Ich stehe dem nicht entgegen, aber ich werde ihm nicht schon wieder hinterherrennen." Das sorgte nur dafür, das Darlene noch betroffener aussah und Vivi noch wütender. Seufzend baute ich meine abwehrende Körperhaltung ab. „Ich weiß, ich benehme mich zickig, aber er auch! Ständig gibt es Drama und dann sind wir beide wieder beleidigt und ach man, wo soll das noch hinführen?", sprudelte es aus mir heraus. Meine beiden Freundinnen schauten mich sprachlos an und ich konnte es ihnen nicht verdenken, keine Antwort zu haben. Sie konnten es nicht ändern und auch keine von ihnen hatte wahrscheinlich daran gedacht, dass Julis und meine Beziehung so laufen würde.
Den restlichen Schultag tanzten Juli und ich immer noch umeinander herum, sahen uns an und doch immer wieder weg, wollte einander nahe sein und konnten es doch nicht ertragen.

Auch der Dienstag lief nicht anders, keiner von uns beiden schien bereit sich zu entschuldigen, bis zum Dienstagabend. Ich konnte nicht leugnen, dass ich sehr erleichtert war, als Juli mich zu sich nach Camlot einlud. Mein Herz raste, vor Aufregung, wie auch vor Vorfreude. Diese zwei Tage hatten an meinen Nerven gezerrt und ich konnte mir auch vorstellen, dass es für Juli nicht besonders toll war. Immerhin kannte ich ihn und sein Gefühlskarussell schon eine Weile. Sobald ich ein Licht auf Camelot sah ging ich den altbekannten Weg durch das Loch im Zaun, um zu ihm zu gelangen. Die Leiter hoch und ich streckte meinen Kopf durch die Bodenluke. Juli hatte die Halle wunderschön hergerichtet, mit Kerzen und Lichterketten, wie aus einem dieser Social Media Posts, die zu perfekt schienen um echt zu sein. Wie beim letzten Mal, als wir einander auf Camelot entschuldigt hatten, stieß er sich wieder von einer der Holzkisten ab, die in der Ecke standen. Zuerst sagte er nichts, nahm mich nur in dem Arm. Und ich ließ ihn, wollte mich nicht wehren. „Es tut mir so leid, wirklich", flüsterte er und drückte mich noch fester an sich. Ich verbarg mein Gesicht in seiner Brust. „Ich weiß mir auch", entgegnete ich, ohne wirklich zu wissen, für was ich mich entschuldigte. Wir ließen einander los und hielten uns nur an den Händen. „Ich war so enttäuscht von mir selbst, das Spiel war so beschissen und in der Kabine hat Markus total Stress geschoben und dann sind meine Nerven einfach draußen mit mir durchgegangen", erklärte Juli, sein Blick schweifte durch Camelot und blieb zuletzt auf mir hängen, um meine Reaktion abzuwarten. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mein Herz nicht noch ein kleines bisschen verletzt war. Doch ich wollte keinen Streit mehr. „Ist okay", nuschelte ich, nachdem ich mich wieder an ihn gedrückt hatte. Zärtlich strich er über mein Haar. „Oh man, ich hasse es dich zu verletzen", murmelte er, sein Kopf auf meinen gelehnt. Beinahe wäre es mir herausgerutscht, dass nur er selbst dafür verantwortlich war, doch ich ließ es. Sicherlich war ihm das bewusst. Juli räusperte sich. „Emma wirklich, das was für dich empfinde, das hab ich noch nie für jemanden empfunden", flüsterte er, während er, mein Gesicht in meinem Hände genommen hatte. Unsere Augen waren aufeinander fixiert. „Du bist das erste Mädchen, in das ich wirklich verliebt bin. Die erste Liebe ist etwas besonderes und ich will um dich kämpfen, koste es was es wolle. Immerhin hatten wir beide unseren ersten Kuss miteinander, das ist etwas Magisches, findest du nicht?" Ein Welle von Gefühlen wusch über mich. Mein Herz raste, zum einen, weil Juli sich so liebevoll und verletzlich zeigte, sein Herz so offen legte, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste platzen vor Liebe. Auf der anderen Seite war Juli nicht mein erster Kuss und auch nicht meine erste große Liebe. Das war Joshua. Ja, wir waren beste Freunde, doch für eine Zeit lang waren wir mehr gewesen als das. Joshua hatte tiefere Gefühl, soweit ich wusste, nie erwidert, also hatte ich diese Gefühle irgendwo in die hinterste Ecke meines Herzens gesperrt und nie wieder zugelassen. Damals waren das nur ein paar Küsse gewesen die wir getauscht hatten, ein paar mal gekuschelt, nur nebeneinander eingeschlafen. Doch wir beide hatten beschlossen, dass es nie mehr werden würden und er hatte sich offensichtlich neu verliebt. Sowieso war klar, dass es durch meinen Umzug keinen Sinn machen würde, diese Freundschaft zu intensivieren. Ich war auch nicht mehr verliebt in ihn oder ähnliches. Doch da gab es eben mal diese Zeit, die ich irgendwie überwunden hatte. Doch Juli stand jetzt hier vor mir und ich konnte in seinem Blick sehen, dass er erwartete, dass ich genau die gleichen Gefühle ihm erwidern konnte. Und ich liebte ihn keine Frage, doch ich hatte Angst vor seiner Reaktion, wenn er herausfand, dass er nicht mein erster Kuss war oder der Erste, in den ich verliebt war, so unbedeutend das auch für mich war. Doch die kurz aufflammende Panik hatte sich wohl auf mein Gesicht, dieses verdammt verräterische Gesicht, geschlichen und es reichte dafür, dass es Juli bemerkte. „Ich liebe dich auch Juli, ich bin froh, dass wir uns wieder vertragen und bei Gott, ich bin so glücklich, dass du so verliebt in mich bist", antwortete ich und doch spürte ich in seinem Blick, dass er nicht ganz überzeugt war. Ich küsste ihn, doch da war ein Widerstand. „Was ist?", fragte ich und unsere Hände hatten sich gelöst. „Du hast eben so gezögert, nachdem, was ich gesagt habe", wisperte er und ich spürte einen neuen Sturm aufziehen. Sollte ich lügen? Ich wusste aber was Lügen machten, sie fressen einen von innen auf, auch wenn es nur so eine, für mich eigentlich unbedeutende Sache war, wie wen ich zuerst geküsst hatte. „Es ist nichts!", versuchte ich Juli glaubhaft zu versichern und hakte nochmal nach: „Ich bin dein erster Kuss?" Natürlich hatte ich mich damit voll reingeritten. „Ja", sagte er und sah irgendwas zwischen verwirrt und verunsichert aus, „ich etwa nicht deiner?" „Ist das wichtig?", fragte ich, in der Hoffnung, dass das potentielle Drama vielleicht gar keins werden würde. „Naja, kommt drauf an. Wer war denn dein erster Kuss? Einer von den Wilden Kerlen?", wollte Juli wissen und sein Körperhaltung ging schon in Verteidigungsmodus. „Nein!", rief ich, da mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, dass Juli das denken könnte. „Also jemand aus deiner alten Gegend? Aber niemanden, den ich kenne oder? Ich meine, ich habe ja bisher nur von Joshua gehört und der ist ja dein bester Freund", redete Juli los, wobei er bester Freund so betonte, als würde er am liebsten spucken. Diese verdammte Eifersucht. Da stand ich wieder vor der Entscheidung: Lügen, um Juli zu beruhigen oder ehrlich sein, damit ich mich nicht verstecken musste. Ich entschied mich für Letzteres. Und weil ich wusste, dass Juli die Antwort nicht gefallen würde, ging ich schon einen Schritt zurück und nahm auch schon meine Verteidigungshaltung ein. „Doch, tatsächlich war es Joshua. Aber wir waren kein Paar, es war gar nichts. Und wir sind und bleiben einfach nur Freunde." Die Reaktion kam genau so schnell, wie ich es befürchtet hatte. Drei, zwei eins und Juli war wieder auf 180. „Ach ja natürlich, nur Freunde, ist schon klar. Und dann natürlich noch schön ihn besuchen fahren. Alles klar", pfefferte er mir wieder um die Ohren und ich konnte nicht anders, als genervt stöhnen. „Nein, so war es nicht. Juli, wir sind wirklich nur Freunde und außerdem hat Joshua auch eine Freundin!", brüllte ich schon fast zurück. „Ach stimmt, weil das ja auch so viel aussagt!", rief er hingegen wieder zurück. „Also denkst du ernsthaft, dass Joshua und ich etwas miteinander hatten, obwohl wir schon zusammen waren?" „Das musst du mir sagen!" „Nein, Juli! Nein, hatten wir nicht! Wie kannst du sowas von mir denken! Ja, wir waren mal irgendwas mehr als Freunde, aber du bist alles was für mich jetzt zählt und ich liebe dich!", antwortete ich. „Also würdest du nicht länger mit ihm befreundet sein, für uns?", forderte er mich heraus und sein Blick sagte mir, dass er es ernst meinte. „Das kannst du nicht so meinen", entgegnete ich trotzdem. Ich verstand Juli irgendwie, aber er konnte nicht verlangen, dass ich den Kontakt zu meinem besten Freund abbrach, egal was in der Vergangenheit passiert war. Immerhin war unsere Freundschaft ja mehr, als nur diese Handvoll von Erlebnissen. Ich wusste nicht, wie ich Juli noch mehr begreifbar machen sollte, dass ich in ihn verliebt war, als durch meine Worte und das was ich alles für ihn tat. „Warum? Du hast hier doch genug Freunde. Und woher willst du wissen, dass er nicht mehr von dir will als Freundschaft?" Ich seufzte. Das hier machte keinen Sinn. „Juli, wir sollten uns beruhigen", versuchte ich die Situation abzukühlen und zu meinem Erstaunen ging Juli darauf ein: „Vielleicht, ja. Vielleicht sollten wir es für heute wirklich gut sein lassen." Wieder seufzte ich nur und verließ das Baumhaus. Für heute hatte ich nichts mehr zu sagen, ohne das wir uns einfach im Kreis drehen würden. So hatte ich mir bei unsere Versöhnung bei weitem nicht vorgestellt.

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